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© Wolf Thieme

Deportierte Berliner: Die Spuren des Herrn Traub

Wie sah er aus? Was dachte er? Wen liebte er? Warum ist er nicht emigriert? Es ist nicht viel bekannt über den Häftling mit der Nummer 7769, der am 22. Juni 1942 im KZ Majdanek starb. Dessen Name am Dienstag vor der Jüdischen Gemeinde verlesen wird.

Es war Zufall, an einem Frühlingstag im vergangenen April. Die Namen deportierter Berliner wurden verlesen, Gedenkbücher durchblättert. Darin stand: Alfred Traub. Gleditschstraße 55, Schöneberg. Dort hatte ich gewohnt.

Herr Traub ist aus der Welt verschwunden, lange vor meiner Zeit. 1942, mitten im Krieg, musste er auf seine letzte Reise. Nach Trawniki, einer Bahnstation nahe dem polnischen Lublin, damals deutsches „Generalgouvernement“. John Demjanjuk, derzeit in München vor Gericht, wurde in Trawniki als KZ-Wachmann ausgebildet.

Wer war Alfred Traub? Geboren 1904, gestorben 1942 im KZ Majdanek. Was lässt sich über die dürftigen Daten im Gedenkbuch hinaus ausfindig machen?

Die Suche nach seinen Spuren führt zurück in eine Vergangenheit, die nicht vergangen ist. Die Suche führt durch Archive, Bibliotheken und Museen zu verstaubten Akten, zu Zeitzeugen in den USA, Israel, Australien oder Polen. Hunderte jüdischer Familien fragen noch heute im Web nach Verschollenen. Hilferufe, die beklommen machen. Väter, Mütter, Brüder, Schwestern, verschwunden in Kulmhof, Litzmannstadt, Trostenez, Kowno, Riga, Treblinka.

Alfred Traub wurde mitten in Berlin geboren, Linienstraße 142-143. Ein Kind der herrlichen Zeiten, die der Kaiser seinem Volk bescheren wollte. Vom Haus stehen noch schäbige Reste. Am 7. Juli 1904, als der Schneidermeister Efraim Ferdinand Traub die Geburt eines Knaben „um neuneinhalb Uhr“ beim Standesamt meldet und die Geburtsurkunde mit der Nummer 1058 in Empfang nimmt, wohnt einfaches Volk im Vorderhaus, dem Hintergebäude und den Seitenflügeln. Tischler, Köche, Kellner, Porzellanmaler, eine Getreidebrennerei Crépin.

Vater Traub steht seit 1902 in den Berliner Adressbüchern. Er ist mit seiner Frau Rosa aus Ungarn gekommen, zieht sechsmal um und wird von 1915 an mit seiner Familie in der Gleditschstraße sesshaft, Hintergebäude, III. Stock. 1943 wird er mit seiner Frau nach Theresienstadt deportiert, das Ende.

Sein Sohn Alfred ist 1926 aus der Wohnung der Eltern nach Berlin-Friedrichshagen in die Kirchstraße 16 gezogen. Als Beruf gibt er Buchhalter an, später Handelsvertreter. Das Haus gehört Otto Traub, der dort eine Seifenhandlung betreibt. Das Gebäude in der heutigen Assmannstraße steht noch, sogar die Räume der Seifenhandlung sind vage zu erkennen. Nur an die Traubs kann sich niemand mehr erinnern.

Warum auch. Alfred Traub, der unscheinbare Reisende in Seifen, ist ein ganz normaler Deutscher und wäre es wohl geblieben. Er ist 29, als der Jubel über den Führer und sein Drittes Reich 1933 über ihn hereinbricht. In der neuen Weltanschauung ist für Juden kein Platz.

Dünn wird die Luft zum Atmen, und 1938 macht sich Alfred Traubs Bruder, Chemotechniker, nach Australien davon. Heute sind Edmund Traub und seine Frau Adelheid längst verstorben, Kinder hatten sie nicht.

Alfred Traub hätte emigrieren sollen. Aber vielleicht hat die teure Ausreise nur für den mit der besseren Ausbildung gereicht? Zu Beginn des Krieges arbeitet er für einen Wochenlohn von 48 Reichsmark in der Märkischen Verlagsbuchbinderei in der Zimmerstraße 29, das ist dort, wo sich heute vor dem Charlotten- Carree die Peter-Fechter-Stele befindet. Der Weg von Friedrichshagen draußen am Müggelsee ins Berliner Zentrum ist weit – im Mai 1941 zieht Alfred Traub in die leer stehende Wohnung seiner Eltern in die Gleditschstraße. Die sind ein Jahr zuvor in die Barbarossastraße 8 umgesiedelt oder umgesiedelt worden. Der Beschlagnahme der „Judenwohnung“ in der Gleditschstraße, so geht aus einem Brief des Hauptplanungsamtes hervor, kommt Alfred Traub zuvor. Da hat er noch wenig mehr als ein Jahr zu leben.

In Berlin haben ab Oktober 1941 die Judendeportationen begonnen, nach Litzmannstadt, wie Lodz von den Nazis genannt wurde, nach Minsk und nach Kowno und Riga, wo die Deportierten nach der Ankunft erschossen werden. Was haben Herr Traub, was seine Eltern, was die anderen von den Massakern im Osten gewusst? Es war ein langer Weg von der Ahnung zur Gewissheit. Viele glaubten noch an einen Arbeitseinsatz, nur wenige hörten ab Mitte Mai 1942 durch Soldaten auf Urlaub von den Massakern.

Routiniert entledigten sich die Deutschen ihrer jüdischen Mitbürger. Ämter erfassten Namen und Adressen, Arier denunzierten, Drucker fertigten Fragebögen, Sekretärinnen tippten Transportlisten, Finanzbeamte bilanzierten Vermögen, Gerichtsvollzieher stellten zu.

Im Januar 1942, Alfred Traub arbeitet noch in der Zimmerstraße, treffen sich die Architekten der „Endlösung“ zur Wannseekonferenz. Im „Generalgouvernement“ entstehen die Gaskammern. Die Transporte sollen künftig in die Region Lublin gelenkt werden. Viel Arbeit für die deutsche Zivilverwaltung. Es gilt Platz zu schaffen, deshalb müssen die polnischen Juden in den geplanten Durchgangsghettos weggeschossen werden, in Izbica, Piaski und anderswo.

Alfred Traub, nun Alfred Israel Traub, verlegt seinen „gewöhnlichen Wohnsitz ins Ausland“, so steht es im Reichsbürgergesetz. „Mir ist eröffnet worden, dass mein gesamtes Vermögen und das meiner Familienangehörigen als beschlagnahmt gilt“, bestätigt er am 27. März 1942 zusammen mit der Vermögenserklärung. Das ist der Tag vor seiner Deportation.

Vermögen? Die acht Seiten mit den Fragen nach Tafelsilber, Bargeldbestand, Antiquitäten und Wertpapieren hat er durchgestrichen. Noch im Juni 1943 streiten sich Oberfinanzdirektion, Hauptplanungsamt und das Büro des Generalbauinspektors Albert Speer um die Instandsetzungskosten der Wohnung in der Gleditschstraße. Die wird am 22. November 1943 von britischen Bombern zerstört.

Alfred Traub hat Berlin schon vorher verlassen. Er geht mit dem 11. Osttransport vom 28. März 1942 zusammen mit 984 anderen Deportierten am Bahnhof Grunewald auf die Reise nach Polen. Drei aus dem Transport werden überleben. Im Berliner Melderegister gilt Herr Traub nun als „ausgewandert“ oder „unbekannt verzogen“. „Die Juden“, schreibt Josef Goebbels einen Tag später in sein Tagebuch. „haben kein anderes Schicksal verdient als das, was sie heute erleiden.“

Drei Tage rumpelt der Zug nach Osten, in Trawniki, Endstation, bleibt das Gepäck zurück. 50 Kilo, die beschlagnahmt und gefilzt werden, weg sind Kleidung, Bettzeug, Topf, Teller und Löffel. Die Kolonne muss unter den Peitschenhieben der deutschen und ukrainischen Wächter, sagt ein Zeitzeuge, die zwölf Kilometer bis ins Städtchen Piaski laufen. Viele glauben noch, sie würden zum Arbeitseinsatz kommandiert, aber in Piaski gibt es keine Fabriken und ringsum nur Sumpf oder Wälder.

Die „reichsdeutschen Juden“, 4000 allein im März 1942, werden ins rasch errichtete Durchgangsghetto gestopft, auch die Mutter der Schriftstellerin Anna Seghers, in verrottete Holzhütten polnischer Juden. 15 Personen pro Zimmer und 1,1 Quadratmeter pro Person. Geschlafen wird abwechselnd auf dem blanken Boden oder auf Stroh. Darum kümmert sich Richard Türk, Leiter der Abteilung „Bevölkerungswesen und Fürsorge“ in der Zivilverwaltung des Distrikts Lublin. Piaski ist ein Vorzimmer der Vernichtung.

Täglich sterben hier 20 bis 30 der Deportierten, an Erschöpfung, Typhus oder Hunger. Für die noch Lebenden gibt es Ersatzkaffee aus pulverisierten Eicheln, Gemüsesuppe und 50 Gramm Brot pro Tag. Alfred Traub ist angekommen im Hades des SS-Führers Odilo Globocnik. „Globus“, wie ihn Himmler nennt, betreibt in der Region die „Endlösung“ unter dem Decknamen „Aktion Reinhardt“.

Über die sechs Wochen, die Herr Traub im Ghetto von Piaski verbringt, gibt es keine Spuren. Hat er an seine Eltern geschrieben, an seinen Bruder Edmund in Australien, was bis Mai 1942 möglich war? Andere Briefe sind erhalten, seine nicht.

Piaski ist heute ein verschlafenes Städtchen. Nur das Gebäude, in dem die Sicherheitspolizei untergebracht war, erinnert an die Zeit des Terrors. Keine Spur mehr vom Ghetto zwischen Busbahnhof und Feuerwehrhaus, aber ein Bauer, nach dem „Zydowski Cmentarz“, dem jüdischen Friedhof befragt, fährt mit dem Traktor voran und weist auf die Erschießungsgräben der 2600 dorthin „evakuierten“ polnischen Juden. Von der nahen Schule klingt Kinderlachen.

In der zweiten Maiwoche 1942 kommt die SS des KZ Majdanek nach Piaski und selektiert arbeitsfähige Juden für das Lager. Auch Alfred Traub ist dabei. Die Neuankömmlinge werden unter die Dusche und zum Friseur getrieben, immer im Laufschritt, bekommen Häftlingskleidung, den Überzieher in Weißblau, Mütze, Holzschuhe.

Alfred Traub hat die Häftlingsnummer 7769. Das KZ Majdanek ist noch im Aufbau, die Häftlinge müssen Baracken, sechs Kilometer Stacheldrahtzäune und 18 Wachtürme errichten, Gräben und Brunnen ausheben, manchmal mit bloßen Händen, das Gelände einebnen für Straßen und Reitbahnen, Wasserleitungen legen, Steine und Ziegelschutt in Tragen und Mantelschößen transportieren – singend: „Aus ganz Europa kommen wir Juden nach Lublin, viel Arbeit gibt’s hier zu leisten, und das ist der Beginn.“

Es ist eher das Ende. Adolf Eichmann, Organisator der Endlösung, spricht in Berlin von „natürlicher Verminderung“, das bedeutet in Majdanek 50 Tote pro Tag.

Elf Stunden Arbeit an den sieben Tagen der Woche, verpflegt mit einem dreiviertel Liter Suppe aus Kohlrüben, verfaulten Kartoffeln, Kräutern und Unkraut, das Brot mit Sägemehl gestreckt, dazu Appelle, „Selektionen“ der Kranken, Skorbut, Krätze, Läuse, Flöhe. Typhuskranke werden „als Sofortmaßnahme zur Seuchenbekämpfung“ erschossen, sagt Erich Muhsfeldt, Führer des Bestattungskommandos in Majdanek, nach dem Krieg.

Der Handelsreisende Alfred Traub, ein harmloser kleiner Mann mit einer hübschen Wohnung in Berlin-Friedrichshagen, Spaziergänger am Müggelsee, ist nun ein Untermensch. Ein Umsiedler wie viele, die nach Ansicht der Herrenmenschen den Bedingungen im Aussiedlungsgebiet nicht gewachsen sind, wegen der begrenzten Ernährungs- und Unterbringungsmöglichkeiten beseitigt werden können und doch bis zuletzt um jede Stunde ihres Lebens kämpfen.

Sommeranfang in Berlin, der Reichswetterdienst meldet für den 22. Juni 1942 „wolkenlosen Himmel mit anhaltendem Sonnenschein, trocken, Höchsttemperaturen um 20 Grad“. Erwin Rommel hat in Nordafrika die britische Festung Tobruk erobert und ist vom Führer zum Feldmarschall ernannt worden, in der Lichtburg, Lankwitz, läuft „Quax, der Bruchpilot“ mit Heinz Rühmann, und der Völkische Beobachter feiert Gustaf Gründgens für seine Inszenierung von „Faust II“ im ausverkauften Schauspielhaus am Gendarmenmarkt. Stalingrad und die Massenbombardements sind noch weit weg, im Strandbad Wannsee herrscht Hochbetrieb wie im tiefsten Frieden.

An diesem Montag stirbt fern von Berlin im KZ Majdanek der Häftling 7769, bürgerlich Alfred Traub, 37 Jahre alt. Verschlissen, verhungert, im Krankenrevier „abgespritzt“? Von einem Kapo in der Fäkalgrube ertränkt oder von der SS erschlagen? Das handgeschriebene Totenregister des Sommers 1942, zufällig erhaltene 165 Seiten, verzeichnet keine Todesursachen. Alfred Traub hinterlässt acht Reichsmark. Mit ihm werden an diesem Tag 50 weitere Häftlinge ausgetragen. Die Asche der Ermordeten ist heute zu einem Monument aufgetürmt. Vielleicht ist auch seine dabei. Vielleicht wurde sie auch über die Gemüsebeete der SS-Gärtnerei gestreut.

Ende einer Spurensuche. Geburtsurkunde, Kopien aus den Berliner Adressbüchern, Vermögenserklärung, ein Name auf der Transportliste Berlin – Piaski, der Auszug aus dem Totenbuch der Lagerschreibstube Majdanek: Das ist es, was von Alfred Traub geblieben ist.

Seit dem gestrigen Montag werden vor der Jüdischen Gemeinde in Berlin-Charlottenburg wieder die Listen der deportierten Berliner Juden vorgelesen. Es sind 55 696 Namen. Am frühen Dienstagabend wird T wie Traub dran sein.

Wolf Thieme

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