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An der Weberwiese nahm der Aufstand seinen Lauf.

© TSP

Der 17. Juni in Berlin: Besuch bei Bewohnern der früheren Stalinallee

Am Block 40 an der Weberwiese nahm der Aufstand vom 17. Juni 1953 seinen Lauf. Interessiert das überhaupt noch einen in den Stalinbauten an der Karl-Marx-Allee? Wir haben mal an den Türen geklingelt.

Ruhig ist es hier und grün. Die Häuser der einstigen Stalinallee ragen hell und majestätisch empor. Kein Graffiti an den Wänden, kein Müll auf den Wegen. Eine zierliche Dame, weißgraue Haare, betagt, schleppt ihre große Handtasche nach Hause. Block 40, 17. Juni ’53, wissen Sie, wo das ist? Nach kurzer Orientierung legt sie los: „Das ist doch alles Lüge. Waren West-Berliner am Werk, das hat doch Egon Bahr selber gesagt, kennen Sie Egon Bahr? Alles Lügen über die DDR, Geschichte wird immer von den Siegern geschrieben.“ Uff.

Mit Bauchgrimmen nähert sich der Besucher Block 40, der Urzelle des Arbeiteraufstands 1953, irgendwo am U-Bahnhof Weberwiese. Hier sollen DDR-Altfunktionäre 60 Jahre später noch immer auf die erfolgreiche Niederschlagung der Konterrevolution anstoßen, dabei auf die krawalldurstigen Lehrlinge aus Neukölln schimpfen, angestiftet von der antikommunistischen Propaganda des Feindsenders Rias. So geht das Gerücht.

Ein Backstein-Mäuerchen mit Inschrift („Wir wollen freie Menschen sein“) am sogenannten Rosengarten erinnert an den Aufstand. Vor zehn Jahren wurde es errichtet, prompt beschwerten sich Anwohner bei der Bezirksbürgermeisterin von der PDS. Doch das Mäuerchen blieb stehen. Jedes Jahr erinnert der Bezirk mit einer kleinen Feier an die demonstrierenden Bauarbeiter des 17. Juni.

Wolfgang Brangsch, weißer Haarkranz, Goldrandbrille, lebt seit 60 Jahren am Rosengarten. Seine Wohnung hatte er im Mai 1953 bezogen. Warmwasser, Zentralheizung, Innenbad, 64 Quadratmeter, der Beginn eines glücklichen Lebens im Sozialismus. 23 war er damals, nach Streik war ihm nicht zumute. Einige Kollegen vom Möbelkombinat sind wohl mitgelaufen, erinnert er sich, aber das sei alles nicht so politisch und umstürzlerisch gewesen, wie es später dargestellt wurde. Abends, am 17. Juni, ging er in der Stalinallee spazieren. „Da war alles ruhig.“ Nur an eine Gegendemo der FDJ kann er sich erinnern. Am Tag vorher, 16. Juni, war ihm allerdings ein „reger Radverkehr“ aufgefallen, „blitzende Fahrräder“, wie es sie im Osten gar nicht gab. Das Columbushaus am Potsdamer Platz sei auf keinen Fall von den Ost-Berliner Arbeitern angezündet worden.

Kurzer historischer Exkurs: Um den Aufstand niederzuschlagen, wurden in Berlin 20 000 sowjetische Soldaten, 600 Panzer und 15 000 Volkspolizisten eingesetzt. 14 Menschen kamen allein in Berlin ums Leben, mindestens.

Brangsch hat nichts zu verbergen, zeigt seine kleine Wohnung, in der er mit Frau Helga zwei Kinder großzog, schmales Bad, schmale Küche, eine kleine Arbeitsecke im Schlafzimmer, viele Bücher. In der Stalinallee, später dann Karl-Marx-Allee, gab es früher viele Geschäfte, die ihr heute fehlen, sagt Helga Brangsch. Auf dem Dach ihres Blocks feierte die Hausgemeinschaft große Feste, „wir haben das als schön erlebt hier“. Dafür möchten sie sich nicht rechtfertigen. „Ein ganz normales Leben. Wir sind die Letzten hier“, sagt Wolfgang Brangsch. Die anderen sind „rausgezogen ins Pflegeheim“ oder verstorben. Viele Jüngere kamen, die Wohnungen sind begehrt. Acht bis zwölf Euro würden bei Neuvermietungen bezahlt, sie selbst sind mit 5,60 Euro noch gut bedient.

Im Erdgeschoss ist ein Kosmetik- und Nagelstudio eingezogen. Chefin Jacqeline Löwenthal aus Lichtenberg, weiße Hose, weiße Schuhe, dunkler Teint, Jahrgang 1971, saugt gerade den Boden, als der Besucher sie mit dem Thema 17. Juni überfällt „Das sagt mir jarnix.“ War ja „was Kapitalistisches“, fällt ihr dann doch ein, „wir haben ja nur die Hälfte der Geschichte gelernt.“ Die Stammkunden kommen extra mit der U 5 aus Hellersdorf und Lichtenberg zu ihr. Schön findet sie die Original-Messingrahmen der Ladenfront. Steht ja alles unter Denkmalschutz, „klassisch-edel“, das findet sie toll.

Nebenan ist ein Architekt eingezogen. In der DDR war hier ein großer Laden für Jenaer Glas. Im ehemaligen Block 40 vis-à-vis gab es ein Geschäft für Farben und Tapeten. Jetzt wartet hier Claudia Richter im „Roten Laden“ auf Sympathisanten der Linken. Die Alt-Genossen der SED gehören nicht unbedingt zum Publikum, eher jüngere Aktivisten, die konkrete Anliegen haben: Verkehrsberuhigung, Kampf gegen Ladenleerstand und steigende Mieten. „Der 17. Juni spielt im Alltag keine Rolle.“ Was sie selbst darüber denkt, möchte die ehemalige Textilfacharbeiterin nicht sagen. Ihre Wahrnehmung: Die Diskussion um den 17. Juni sei sachlicher geworden.

Im Park hinter dem Block entschuldigt sich Agnieszka Reinert aus Polen, dass sie vom 17. Juni noch nichts gehört hat. Stalin ist ihr natürlich präsenter. „Solche Straßen haben wir in Polen auch.“ Eine Nachbarin erzählt, dass die Älteren im Haus, die Erstbezieher, unter dem Vorurteil litten, sie hätten wegen besonderer Staatstreue die Wohnungen bekommen. „Das stimmt, aber in vielen Fällen auch nicht.“ Die alten Leute würden gern über den 17. Juni reden, vielleicht sollte man sie einfach mal zu einer Diskussion einladen. Die studierte Gesundheitsmanagerin lebt mit ihrem Sohn zusammen, sie ist in der Gegend geboren und liebt die Architektur. An die Wohnung in Block 40 sei sie nur über „Beziehungen zur WBM“, der Wohnungsbaugesellschaft, herangekommen.

An der Westseite des Rosengartens macht sich derweil Patrick Wuckel für die Heimfahrt bereit, eckige Brille, sorgloses Lächeln, Wirtschaftsrecht-Student aus Kassel. Er habe eben noch mit einem Kommilitonen für eine Prüfung gelernt. Auch an ihn die Frage zum 17. Juni: Was ist damals pasiert? Bitte in drei Sätzen. Patrick muss passen. Im Geschichtsunterricht seien sie irgendwie nicht so weit gekommen. Das ganze DDR-Thema blieb unterbelichtet, zumindest kann sich Patrick nicht an viel erinnern. Auch die sanierten Stalin-Zuckerbäckerbauten findet er nicht so toll. „Schön ist was anderes.“

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