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Berlin: Der autistische Berliner Schriftsteller dreht seinen ersten Spielfilm

Der junge Mann sitzt auf dem Boden und wippt in der für Autisten charakteristischen Weise vor und zurück. Die Aktivitäten um ihn herum scheint er nicht wahrzunehmen.

Der junge Mann sitzt auf dem Boden und wippt in der für Autisten charakteristischen Weise vor und zurück. Die Aktivitäten um ihn herum scheint er nicht wahrzunehmen. Doch das trügt. Plötzlich beginnt er zu schreien, eine wimmernde Selbstanklage bricht aus ihm hervor und er presst die Hände mit Gewalt gegen den geöffneten Mund. Solche Anfälle sind harmlos und das Filmteam registriert sie gelassen. Sie haben schon Schlimmeres erlebt. Manchmal, wenn die innere Anspannung ins Unendliche wächst, beginnt sich Birger Sellin zu schlagen. Dann wütet in ihm eine Kraft, gegen die sie nichts unternehmen können.

Berit Hansen steht hinter ihm und reibt seinen Nacken. Das beruhigt ihn. Sie dreht einen Spielfilm mit Birger Sellin und weiß, wie schwer es ihm fallen muss, sich dem chaotischen Treiben auszusetzen. Es könnte ihn jederzeit überfordern. Und dann?

Als vor sechs Jahren Texte eines autistischen Jungen unter dem Titel "ich will kein inmich mehr sein" veröffentlicht wurden, galt das als eine literarische Sensation, die Vergleiche mit Hölderlin, Kleist und Artaud provozierte. Denn Autisten galten bis dahin als unfähig, ihrer Isolation zu entfliehen und sich mit der Umwelt sprachlich zu verständigen. Die Tagebuchnotizen, Briefe und Gedichte, die Birger Sellin mit Hilfe seiner Mutter und anderer Vertrauenspersonen in einen Computer hatte eintippen können, waren von einer bizarren Schönheit und gewährten einen seltenen Blick in den seelischen Käfig. Sie erzählten von unvorstellbarer Einsamkeit und Angst. Möglich geworden war diese Öffnung des für unheilbar gehaltenen Autisten durch die "gestützte Kommunikation", bei der ihm ein Helfer die Hand führt und auf diese Weise gemeinsam Buchstaben, Worte und Sätze ertastet werden. Eine nicht ganz unumstrittene Methode. Es gabVorwürfe, die Zeugnisse des Autisten seien insgeheim Projektionen seiner Begleiter, er selbst nur das Werkzeug ihres verklärten Autismus-Bildes.

Ein Problem, mit dem auch Berit Hansen zu kämpfen hat. Der Film, beteuert sie, entstehe nach den Wünschen seines Hauptdarstellers. Er habe am Drehbuch mitgewirkt und die Rahmenbedingungen festgelegt. Obwohl auch ihr Zweifel kommen: "Tatsächlich entstehen bei der gestützten Kommunikation Situationen, in denen ich mir nicht mehr sicher bin, ob das Wort von mir stammt, oder von ihm gewollt ist." Die Filmhandlung knüpft da an, wo die Bücher Sellins hatten aufhören müssen: Sie zeigt ihn als einen lebenslustigen, hilfsbereiten Mann, der nicht das in sich verschlossene Wesen ist, das eine verunsicherte Öffentlichkeit aus ihm und seinesgleichen oft macht. "Alles, was in den Lehrbüchern über Autismus gesagt wird, kann man vergessen", sagt Hansen, die sich als Psychologiestudentin seit Jahren mit dieser Behinderung auseinandersetzt. "Birger leidet darunter, dass ihn die Welt als ein stumpfes Wesen betrachtet und nicht für liebesfähig hält." So konzentriert sich der Film auf die liebenswürdigen Seiten Sellins und verzichtet auf jene wütenden, verzweifelten und selbstdestruktiven Anfälle, die ihn in seine Isolation zurücktreiben.

Der Film "Wer findet eine gerade Zahl" ist eine No-Budget-Produktion, die aus privaten Mitteln finanziert wird. Er erzählt die Geschichte einer vereinsamten und erfolglosen Kunstmalerin, die sich das Leben nehmen will und von dem Autisten Theo gerettet wird. Aus der zufälligen Bekanntschaft entwickelt sich eine Art Partnerschaft, die als Modell einer Annäherung an den labilen Hünen gelesen werden soll. Dass ihn die Handlung zudem zu einem Hoffnungsträger macht, der helfen kann, weil er über eine noch exklusivere Einsamkeitserfahrung verfügt, mag man für übertrieben halten. Es entspricht aber Hansens Theorie: "Autisten sind zu sensibel und empfindsam, um sich verständlich zu machen."

Die Gefahr, dass Sellin seinen eigenen Zielen nicht gerecht werden und in eine umso stärkere Depression stürzen könnte, bedroht das Projekt von Beginn an. "Wir haben bislang Glück gehabt", sagt Hansen. Aber die Entdeckung des Lebens ist für den sich mittlerweile allein versorgenden Sellin, der sogar ein Psychologiestudium an der FU begonnen hat, ein zweischneidiges Schwert. Seine autoaggressiven Schübe nehmen zu, seitdem zu den üblichen Versagensängsten die Misserfolge hinzukommen, die ihn bei der harten Arbeit sich mitzuteilen ereilen.

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