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Lea und Aron Waks mit Sohn Robbi.

© Privatarchiv Ruwen Waks

Von der späten Emanzipation der Lea Waks: Der Bayerische Platz ist mein Wohnzimmer

Lea Waks überlebte den Holocaust und lebte nach dem Krieg im Bayerischen Viertel in Berlin. Auch um sie geht es in dem Buch „Als die Juden nach Deutschland flohen. Ein vergessenes Kapitel der Nachkriegsgeschichte“. Hier eine Leseprobe.

Da steht sie nun, weit in den Achtzigern, unbefangen angesichts des größeren Pulks, kess und schlagfertig, mit jugendlicher Frisur und adretter Kleidung inmitten der meist viel jüngeren Touristen. Als Überlebende der Schoah sieht sie sich aufgerufen, mit ihrem eigenen Schicksal zu beglaubigen, was die Besucher gerade über die Leidensgeschichte der verfolgten Juden erfahren. Doch sie stilisiert sich nicht als Opfer, Jammern ist nicht ihr Metier. Lieber erzählt sie kurz und prägnant, was sie aus ihrer jeweiligen Situation gemacht hat. Dabei hat sie das Gegenüber fest im Blick, Ausflüchte sind kaum möglich. Gewiss freut sie sich über reichlich Sympathie, die oft spontan zurückkommt, doch nicht aus persönlicher Eitelkeit. Es genügt ihr, dass die Tragik ihres Volkes der Vergessenheit entrissen wird. Am Abend dürfen dann Freunde und Familienmitglieder ihre Genugtuung teilen, dass sie an diesem Ort als Jüdin Aufmerksamkeit und Zuwendung erfährt. Das bedeutet ihr viel.

Lea Waks braucht kein Geschichtsbuch, um die einzelnen Stationen der Entrechtung der Juden während der Nazi-Zeit zu beschreiben. Wohl fehlt ihr der abstrakte historische Kontext, ist sie schließlich doch keine studierte Fachfrau. Dabei weiß sie an jeder Stelle exakt, wovon sie spricht, hat präzise Beschreibungen parat. Etwa, wenn sie von ihrem Lodz erzählt, einer zunächst fröhlichen Kindheitsoase, die sich jedoch 1940 innerhalb weniger Wochen in ein Ghetto verwandelte. Dann die Trennung von der Familie, die sich in die Sowjetunion absetzen konnte, die verzweifelte Lage des jungen Mädchens im mörderischen Lagersystem; schließlich die Rettung vor der ansonsten sicheren Vernichtung. Es ist anschaulich und schaurig zugleich, wie sie die Erscheinungen und Auswüchse des Antisemitismus in Polen beschreibt.

Nach der sogenannten Befreiung 1945 nochmals die vielen Attacken und Pogrome, die haarsträubenden Umstände der Flucht aus der alten Heimat in das Land der Täter, aber doch unter den Schutz der amerikanischen Besatzungsmacht. Schließlich ihre über zehnjährige Wanderung durch die Camps für Displaced Persons. Die Schlichtheit der Worte, mit der sie über diese Verwerfungen ihres Lebens berichtet, erhöht die Nachdrücklichkeit ihrer Schilderung noch. Das Erlebte bewegt sie weiter tagtäglich und überall. Bekannte haben jedes Detail x-mal zu hören bekommen.

Lea Waks (1929-2015)
Lea Waks (1929-2015)

© privat

Ein unendlicher Wiederholungszwang? Immer noch gedanklich im Ghetto gefangen? Kein Entrinnen für Lea Waks, der jeder, ob er’s nun hören will oder nicht, für die eigene Bewältigung als Projektionsfläche dient? Nein, das ist nicht die typische Leierkasten-Erzählung, die viele alte Leute mit Kriegs- und Jugenderlebnissen abspulen. Die Konfrontation mit der eigenen schmerzvollen Geschichte, den Verfolgungen und Demütigungen, den Zweifeln und Ängsten in Tag- und Albträumen, hört einfach nicht auf. Aber statt Couch oder sonstiger therapeutischer Begleitung schöpft Lea in den letzten Jahren Kraft aus den eigenen Bewältigungsanstrengungen. Daraus, dass sie hinschauen kann, rausgehen kann. »Damit leben können«, lautet die Devise.

Die Begegnungen mit Besuchern im Bayerischen Viertel setzen bei Lea immer wieder aufwühlende Gefühle frei. Warum ist gerade sie eine der Letzten? Da spielt wohl auch die Frage nach der »Überlebensschuld« hinein, die sich viele Juden stellen, eben die Überlegung, warum ausgerechnet sie davonkamen, während die anderen Familienangehörigen von den Nazis umgebracht wurden. Deshalb braucht Lea mit ihrem stereotypen Bild vom »Land der Mörder« Jahrzehnte, um ohne Beklemmungen auf »fremde« Deutsche zugehen zu können.

Und darum reibt sie sich weiter an der Umwelt. In der älteren Generation glaubt sie immer noch verkappte Nazis zu erkennen und wittert bösartige Intrigen von Antisemiten. Als in einem Berliner Delikatessengeschäft eine Angestellte – nicht ahnend, wer vor ihr steht – abfällig über Juden spricht, ist Lea zutiefst empört. Hartnäckig telefoniert sie sich bis zum obersten Chef der Unternehmenskette durch. Die Verkäuferin wird fortan nicht mehr im Laden gesichtet, eine förmliche Entschuldigung der Firma mit einem Präsentkorb nachgereicht.

Spuren im Schnee: Spaziergang von Lea Waks im winterlichen Föhrenwald.
Spuren im Schnee: Spaziergang von Lea Waks im winterlichen Föhrenwald.

© Privatarchiv Ruwen Waks

Ebenso ergeht es dem Chefredakteur eines Berliner Boulevardblattes, das seine Spalten dem arabischstämmigen Rapper Bushido geöffnet hatte. Bei diesem Namen bekommt Lea sofort einen dicken Hals, ist Bushido doch wiederholt mit antisemitischen und homophoben Äußerungen aufgefallen. Das Telefonat wird für den flotten Journalisten nicht zum Zuckerschlecken. Lea zeigt einmal mehr, was eine Harke ist.

So gilt Lea den einen als gefürchtete Streiterin ihrer jüdischen Sache, zuweilen recht unnachgiebig und undiplomatisch; den anderen jedoch als authentische und starke Respektsperson. Und die Anerkennung ihres kämpferischen Auftretens bedeutet ihr viel. Doch auch hier, bei aller Dankbarkeit, verliert sie niemals die eigene Haltung. Und macht sich niemals mit den anderen gemein. Zum Deutschsein und den dazugehörigen Mentalitäten hält sie immer das entscheidende Stück Distanz, um ihre Individualität zu schützen. »Wir und ihr« – das bleibt eine ständige Redewendung.

Eine fröhliche Feier der Familie Waks mit Freunden in ihrem Haus in Föhrenwald.
Eine fröhliche Feier der Familie Waks mit Freunden in ihrem Haus in Föhrenwald.

© Privatarchiv Ruwen Waks

Ein solches Leben braucht aber zutrauliche Verankerung, und die findet Lea in einem kleinen jüdischen Freundeskreis von Damen schon recht fortgeschrittenen Alters. Mit diesen trifft sie sich regelmäßig in einem Café am Ku’damm. Regina kennt sie schon eine Ewigkeit, auch Mira und die anderen im ergrauten Kränzchen. So lebt am Schabbat ein bisschen vertraute Stimmung aus frühen Tagen auf, und allen wird wohlig ums Herz, stammen doch viele aus osteuropäischen Ländern. Gerade Regina kann mit Lea ein Lied singen, wie doch die jiddischen Mammen einst gekocht und gefeiert haben. Dabei zänkeln sie, wer wohl den besten Gefilte Fish oder Tscholent (Auflauf für Schabbes) bereitet – ob nach polnischem oder litauischem Rezept. Und gerade die schmerzvollsten Erlebnisse haben die beiden zusammengeschweißt. Auf Jiddisch werfen sie sich nur kurze Begriffe zu und verstehen gleich die dazugehörige Geschichte. Als frühere Zwangsarbeiterin im Sudetenland fühlt sich Regina mit Lea und deren Leidensweg tief verbunden. Dieselbe religiöse wie gesellschaftliche Prägung schafft unter den Freundinnen eine Verbundenheit, als wären sie Geschwister.

Glücklich wieder vereint: Lea und AronWaks (Mitte) im Discplaced-Persons-Lager Ziegenhain im Herbst 1946.
Glücklich wieder vereint: Lea und AronWaks (Mitte) im Discplaced-Persons-Lager Ziegenhain im Herbst 1946.

© Privatarchiv Ruwen Waks

Doch der jüdische Glaube gibt Lea den stärksten Halt für ihre Identität. Im traditionellen osteuropäischen Judentum der Aschkenasen verwurzelt, geht sie regelmäßig in die orthodoxe Synagoge an der Joachimsthaler Straße. Die meist aus dem Osten stammenden Gemeindemitglieder haben dort ein Stück vertraute geistige Heimat wiedergefunden. Lea zeigt mit Stolz, dass sie dazugehört. Auch nach außen hin, was ihre Nachbarin nicht immer erfreut. Ihr jüdisches Bekenntnis prangt offen an einer Halskette, in Form zweier goldener Symbole der Tora-Rollen. »Müssen Sie sich denn in aller Öffentlichkeit als Jüdin zu erkennen geben?«, wird sie immer wieder ermahnt, im Bewusstsein, wie gefährlich dieser Freimut sein könnte. Etwa, wenn es in Berlin erneut zu antisemitischen Zwischenfällen gekommen ist wie einer gewaltsamen Attacke auf einen Rabbiner oder zu ausfälligen Pöbeleien gegen einen jungen Juden, nur weil er eine Kippa trägt.

Buchcover „Als die Juden nach Deutschland flohen. Ein vergessenes Kapitel der Nachkriegsgeschichte“ von Hans-Peter Föhrding und Heinz Verfürth. © 2017, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln. ISBN: 978-3-462-04866-7, Deutschland 24,00 €, 352 Seiten, gebunden mit SU
Buchcover „Als die Juden nach Deutschland flohen. Ein vergessenes Kapitel der Nachkriegsgeschichte“ von Hans-Peter Föhrding und Heinz Verfürth. © 2017, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln. ISBN: 978-3-462-04866-7, Deutschland 24,00 €, 352 Seiten, gebunden mit SU

© promo

Die Autoren: Hans-Peter Föhrding studierte Pädagogik, Psychologie und Soziologie und war mehrere Jahre in der Erwachsenenbildung tätig. Außerdem als Journalist in leitender Stellung u.a. bei der Leipziger Volkszeitung und der Mitteldeutschen Zeitung, Redaktionsleiter der Jüdischen Allgemeinen. Als freier Journalist widmet Föhrding sich gesellschaftlichen Themen. Dr. Heinz Verfürth, Studium der Politischen Wissenschaft, Neueren Geschichte und Soziologie. Redakteur u.a. bei Spiegel und Handelsblatt. 1972 Chefreporter beim Kölner Stadt-Anzeiger, später dort Leiter des Politikressorts. 1993–1999 Chefredakteur der Mitteldeutschen Zeitung. 1973 Theodor-Wolff-Preis. Jetzt freier Journalist und Autor in Berlin. Veröffentlichungen: »Die Arroganz der Eliten« 2008, »Schwarzbuch Politik: Gegen den Ausverkauf der politischen Kultur«, 2009.

Das Buch: "Als die Juden nach Deutschland flohen. Ein vergessenes Kapitel der Nachkriegsgeschichte" ist soeben im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen, ISBN: 978-3-462-04866-7, Deutschland 24,00 €, 352 Seiten, gebunden mit SU. Mehr Informationen zum Buch finden Sie hier. Wir danken dem Verlag für das Einverständnis, diese Leseprobe auf Tagesspiegel.de zu veröffentlichen.

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