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Berlin: Der Blues von Gleis A

Der Grafiker Martin Karcher sucht nach dem Geheimnis des Bahnhofs Ostkreuz

Am Anfang stand eine Warnung. Nachts solle man die S-Bahn-Linien östlich des Bahnhofs Ostkreuz meiden. Das las der Grafiker Martin Karcher in einem Reiseführer, als er vor ein paar Jahren nach Berlin zog. Er wurde neugierig, immer wieder trieb sich der Zeichner auf dem Bahnhof am östlichen Rand der Innenstadt herum. Er fühlte sich angezogen von dessen vielschichtiger, verwirrender Struktur und dem morbiden Charme. Mit Bleistift und Feder untersuchte Karcher den Ort und zerlegte ihn in zahlreichen Zeichnungen in seine grafischen Einzelteile. Er skizzierte Längs- und Querschnitte und analysierte Signalanlagen, Bahnsteige, Gleise und Treppen auf der Suche nach der Seele dieses heruntergekommenen, chaotisch wirkenden Bauwerks.

Das Ergebnis ist eine detailversessene, ironisch-liebevolle und etwas verschrobene Annäherung an ein Stück Berliner Funktionsarchitektur, das durch die Betrachtung durch den Künstler selbst zu einem Kunstwerk wird.

Karcher verbindet assoziative Gedankenspiele und historische Einsprengsel mit überdrehten Fantasien darüber, was sich hinter verschlossenen Türen und unter den Gleisen an bislang unentdeckten Geheimnissen verbergen mag. Mit feinem, teils ungelenk wirkendem Strich seziert er den Bahnhof, beschreibt mit freundlichem Spott die Menschen, die hier ihre Tage als Abfertiger oder Imbissverkäufer verbringen. Sein Forschergeist macht auch vor den öffentlichen Toiletten nicht halt, auf denen er eine angenehme Überraschung erlebt.

Nebenbei klärt der Grafiker das Rätsel auf, wieso es hier Bahnsteige namens A, D, E und F gibt, aber keinen mit den Buchstaben B oder C. Manchmal geht die Fantasie etwas mit ihm durch, etwa wenn der S-Bahn-Fahrdienstleiter auf Karchers Zeichnungen zum Rocksänger mutiert, neben dem unvermittelt der Ex-Stones-Bassist Bill Wyman auftaucht, oder wenn in den Bahnhofskatakomben FBI– Agenten Atommüll bewachen. Trotzdem: Ein anregendes Buch, das angesichts der bevorstehenden Totalsanierung am Ostkreuz schon bald zum historischen Dokument werden dürfte.

— Martin Karcher: Ostkreuz – der andere Blick. Selbstverlag, 108 Seiten, zwölf Euro, erhältlich in ausgewählten Buchläden oder per Mail: info@ martinkarcher.de

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