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Berlin: Der Entziehungshelfer

Joachim Brunken war erst Geldfälscher, dann Sozialarbeiter. Jetzt muss er den Soldiner-Treff schließen

Unter anderen Umständen würde sich Joachim Brunken darüber freuen, dass ihm, seiner Frau und den beiden Kindern demnächst jeden Monat rund 100 Euro mehr übrig bleiben. So aber ist es ihm unmöglich. „Der Laden hier ist schließlich mein Leben“, sagt Brunken (64).

Der Laden, das ist der „Treff“ in der Soldiner Straße in Wedding. Brunken bezieht Sozialhilfe, trotzdem: „Fünfzig oder hundert Euro hab’ ich immer privat reingebuttert.“ Der Treff ist eine Anlaufstelle für Alkoholiker und Nachbarn, die Hilfe im Haushalt brauchen. Eine Art offenes Wohnzimmer im Kiez für Arme und Gestrandete, wo man immer jemanden trifft, mit dem man über Eheprobleme sprechen oder auch Fußball gucken kann. Man könnte auch sagen: Der Treff ist Joachim Brunkens zweite Familie. Die Leute im Kiez nennen ihn nur Atze oder Achim. Vor knapp vier Jahren hat er den Treff gegründet. Jetzt muss Brunken schließen, weil das Quartiersmanagement die Miete nicht mehr zahlt und keine 500 Euro im Monat aufbringen kann.

Brunken sitzt an einem der Vierertische im Treff und dreht sich eine Zigarette. Die Wände hinter einer abgewetzten cremefarbenen Ledersitzgruppe sind mit Wasserfall- und Palmengarten-Postern tapeziert. „Man hat mir angeboten, dass ich hier im Haus den Hausmeister-Job machen könnte“, sagt Brunken. Er hat abgelehnt, obwohl er mit dem Geld die Miete finanzieren könnte. „Aber ich hätte zu wenig Zeit für meine Leute.“ Oft riefen ihn Alkoholiker an, die sofort seine Hilfe brauchen. Morgens um neun, mittags um zwei, abends um acht – er müsse in Notlagen „sofort das Haus verlassen“ können. Einen gestrandeten Juristen aus der Nachbarschaft habe er beispielsweise „schon zwanzig Mal“ zum Entzug in die Klinik bringen müssen. Die Berliner Innenverwaltung hat den Soldiner Kiez als „sozialen Brennpunkt“ eingeordnet. Brunken beschreibt seine Nachbarschaft so: „Es gibt viele gewalttätige Jugendliche, verwahrloste Menschen, viele sind alkoholabhängig. Immer mehr Frauen trinken. Und immer jüngere.“

Brunken weiß, wie das ist, wenn man jeden Halt verloren hat. Vierzig Jahre lang hing er selbst an der Flasche. Brunken ist im Soldiner Kiez geboren, in den 60ern saß er zwei Jahre im Knast, weil er im großen Stil Geld gefälscht hatte. Seinen Komplizen hatte die Polizei mit 800 000 Mark am Flughafen festgenommen. Durch ein Missgeschick war ein Geldkoffer aufgegangen. Nach seiner Entlassung ging Brunken in die DDR, weil es dort Arbeit und Wohnraum gab. Aber auch hier erwartete den jungen Mann nur Ärger, und er wurde schließlich wieder ausgewiesen. Im Westen landete Brunken auf der Straße. Kurz vor dem Mauerfall traf er Edeltraud, auch eine ehemalige DDR-Bürgerin, auf dem Breitscheidplatz. Brunken trank damals bis zur Bewusstlosigkeit, eines Morgens erwachte er in der Nervenklinik Spandau. Da merkte Brunken, dass der Alkohol ihn bereits fast besiegt hatte. „Im Kreissaal habe ich Edeltraud geschworen, nie wieder zu trinken.“ Brunken hat Wort gehalten. Der Geburtstag seiner Tochter Sara war gewissermaßen sein zweiter. Seine Sucht ist für ihn aber auch nach zehn Jahren noch immer allgegenwärtig. Kein Wunder. „Jeden Tag im Treff sehe ich mich selbst.“ An einer Wand hinter ihm hängt eine Urkunde: der Ehrenamtspreis des Bezirks „für herausragende ehrenamtliche Tätigkeit“. Gut ein Jahr ist es her, dass er ihn für sein Engagement bekommen hat. Freitag wird Brunken den Treff zum letzten Mal öffnen.

Marc Neller

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