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Gefährlicher Job. Prostituierte, die Opfer von Gewalttätern werden, wenden sich oftmals nicht an die Polizei.

© dpa

Der Fall Thomas Sch.: Prostituierte haben keine Lobby

Serien-Vergewaltiger vergehen sich oft an Prostituierten. Weil diese Übergriffe seltener anzeigen – oder von den Ermittlern nicht ernst genommen werden.

Von Sandra Dassler

Er hatte bereits eine Frau getötet, aber das wusste die 25-jährige Studentin nicht, als der eloquente junge Mann sie ansprach. Er war nett, man kam ins Plaudern – später begleitete die Studentin den Mann in seine Wohnung. Dort aber schlug die Stimmung um: Der Mann schlug auf sie ein, würgte und vergewaltigte sie. „Meine Mandantin hatte Todesangst“, sagt Rechtsanwältin Adelaide Stronk: „Sie ist überzeugt, dass Thomas Sch. sie umgebracht hätte, wenn ihr nicht die Flucht gelungen wäre.“

Thomas Sch. steht jetzt vor Gericht. Der Fall empört viele. Wie berichtet war der 40-Jährige im Mai 2009 aus der Haft entlassen worden. Zehn Jahre war er dort, nachdem er eine Frau erstochen hatte. Weil er nach wie vor als höchst gefährlich galt, wollte die Staatsanwaltschaft gegen ihn einen so genannten Unterbringungsbeschluss erwirken, eine Vorstufe zur nachträglichen Sicherungsverwahrung. Doch ein Gericht lehnte dies ab. Und obwohl er 2009 wegen einer Körperverletzung im Gefängnis zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden war, griffen Polizei und Justiz nicht durch, als ihnen ab Ende 2009 weitere Straftaten von Sch. angezeigt wurden. So konnte der HIV-Infizierte bis zum September 2011 weitere Frauen vergewaltigen und schwer misshandeln.

Im Herbst 2010 hatten die Polizisten beispielsweise ein Opfer nicht vor dem unter Führungsaufsicht stehenden Mann geschützt: die Frau, die ihn angezeigt hatte, wurde von ihm fast totgeschlagen. Die Staatsanwaltschaft stellte die Ermittlungen ein, weil Sch. wegen eines Ladendiebstahls zu einer Geldstrafe verurteilt worden war. Mit der gleichen Begründung ignorierte man nach Tagesspiegel-Informationen letztlich auch die Hinweise eines Gefangenen in der JVA Tegel. Dieser hatte im November 2009 eine Strafanzeige gegen Sch. gestellt, weil dieser eine Bekannte geschlagen und misshandelt haben sollte. Die Staatsanwaltschaft sah keinen Anfangsverdacht. Als der Gefangene wenige Wochen später eine zweite Anzeige wegen Bedrohung gegen Sch. erstattete, wurde von einem Ermittlungsverfahren ebenfalls mit dem Verweis auf die Verurteilung wegen des Ladendiebstahls abgesehen.

Wenn man die Anzeigen damals ernster genommen hätte, wäre vielen Frauen viel Leid erspart geblieben, sagen die Anwältinnen der Opfer. Auch in Ermittlerkreisen ist die Betroffenheit groß. Als Ursachen benennen viele zum einen schlicht die Bequemlichkeit von Polizisten und Staatsanwälten, die Anzeigen beziehungsweise aufwendige Ermittlungsverfahren vermeiden möchten. „Da wird auch schon mal einer Frau bedeutet, dass sie sich genau überlegen sollte, ob sie sich die mit einer Anzeige verbundenen Befragungen antun wolle“, sagt ein Polizeibeamter. Zum anderen spiele es offenbar noch immer eine Rolle, wenn Opfer dem so genannten Milieu zugeordnet werden, fremdländisch aussehen oder als Prostituierte arbeiten.

„Es hat sich schon vieles gebessert“, sagt eine Rechtsanwältin: „Aber gerade habe ich wieder einen Fall erlebt, wo ich am Rechtsstaat zweifle. Oder besser gesagt, wo die Möglichkeiten des Rechtsstaates nicht genutzt wurden, weil eine Staatsanwältin und ein Gericht einen als absolut gefährlich eingestuften Gewalttäter nach zwei Dritteln seiner Haftzeit entlassen haben. Ich bin sicher, dass das nie geschehen wäre, wenn es sich bei den Opfern beispielsweise um Bekannte der Richter und nicht um Prostituierte gehandelt hätte.“

Zumindest seien die Zeiten, als Polizisten, Staatsanwälte oder gar Richter noch öffentlich bezweifelten, dass man Prostituierte überhaupt vergewaltigen könne, vorbei, sagt die Anwältin.

Auch sei hier ein Fall wie jüngst in der Schweiz geschehen wohl nicht möglich. Dort hatte ein Mann fünf Prostituierte vergewaltigt. Das Gericht verurteilte ihn zu milden drei Jahren Haft, weil die Opfer „nur“ Prostituierte gewesen seien. Dagegen erhoben diese Beschwerde, und die höchsten Schweizer Richter machen klar: Eine Prostituierte habe das gleiche Recht wie jede andere Person, eine sexuelle Beziehung oder unerwünschte Sexualpraktiken zu verweigern.

Eine Erkenntnis, die sich in Berlin bereits seit einigen Jahren zunehmend durchgesetzt hat. So hat man in der Beratungsstelle für Prostituierte Hydra in Kreuzberg in der Vergangenheit oft „sehr positive Erfahrungen mit Polizisten gemacht“, wie eine Mitarbeiterin sagt. Dass generell viele Frauen sich scheuen, Vergewaltigungen und andere körperliche Misshandlungen anzuzeigen, sei aber auch zu beobachten. „Die Schilderung des Geschehens ist schon schwer genug und wenn ihnen dann noch Fragen gestellt werden, die suggerieren, dass sie vielleicht doch irgendwie selbst schuld gewesen seien, ist das entwürdigend.“

Manche Prostituierte zeigten die Taten nicht an, weil sie ein Doppelleben führten, andere haben in ihren Heimatländern oder auch hier schlechte Erfahrungen mit der Polizei gemacht. Und generell sei die moralische Verurteilung von Frauen, die der Prostitution nachgehen, in der Gesellschaft noch sehr groß, weiß man bei Hydra.

Das wusste offenbar auch Thomas Sch., meint sein einstiger Mitgefangener aus Tegel, der ihn 2009 anzeigte: Entweder habe sich Sch. gleich Prostituierte gesucht, von denen er glaubte, dass sie ihn nicht anzeigen würden. Oder Frauen, die gern Partys feierten. Die habe er dann in Drogengeschäfte verwickelt und sie damit erpressbar gemacht. Auch deshalb habe es im Fall Thomas Sch. wahrscheinlich viel mehr Taten gegeben als jetzt angeklagt seien. Und möglicherweise auch viel mehr Opfer.

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