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Berlin: Der Ferne ganz nah

Gleitsichtbrillen werden mit ihren Mehrstärkengläsern immer raffinierter

Irgendwann ist es so weit: Auch Menschen, die in den ersten 40 bis 50 Jahren ihres Lebens „gute Augen“ hatten, brauchen jetzt eine Brille: die berühmte „Lesebrille“. Ohne sie kann nicht nur das Lesen, sondern auch das Einfädeln eines Fadens in die Nähnadel zum frustrierenden Manöver werden. Ihre Sammelgläser verbessern die Brechkraft des Auges im Nahbereich, die mit der Zeit schlechter wird, weil die Linse ihre Formbarkeit und Anpassungsfähigkeit verliert. „Dadurch ist sie nicht mehr in der Lage, sich adäquat auf unterschiedliche Entfernungen einzustellen“, erklärt der Augenarzt Georg Eckert, Pressesprecher des Berufsverbandes der Augenärzte Deutschlands (BVA).

Dummerweise kann man mit der Lesebrille auf der Nase in der Ferne nicht mehr scharf sehen. Also heißt es: Brille auf fürs Lesen des Programmheftes, Brille ab fürs Fernsehen. Oder vorsichtig die Halbbrille auf genau die Stelle der Nase platzieren, die den Blick darüber hinweg für die Ferne erlaubt, ohne den durch sie hindurch – den man für die Nähe braucht – unmöglich zu machen. Will man zwischendurch die E-Mails checken, fühlt man sich aber irgendwann weder mit noch ohne Lesebrille richtig ausgestattet. Wer in allen drei Bereichen gut sehen und dafür ein und dieselbe Brille benutzen möchte, ist mit Mehrstärkengläsern gut beraten. Die raffiniertesten unter ihnen sind sicher die Gleitsichtgläser: Wunderwerke der Technik, die Bereiche mit unterschiedlichen Korrekturstärken enthalten, Zonen für die Nah- und Fernsicht und solche für mittlere Distanzen. Die Übergänge zwischen diesen Zonen sind fließend und für den Betrachter unsichtbar ins Glas eingeschliffen.

Auch Kurzsichtige, die sich schon in jungen Jahren an eine Brille oder an Kontaktlinsen gewöhnt haben, weil sie ohne Sehhilfe in der Ferne nicht scharf sehen würden, merken mit zunehmendem Alter meist, dass sie mit ihrer angestammten Gläserstärke oder den gewohnten Kontaktlinsen nicht mehr gut lesen können. Statt die Brille dann beim Lesen abzuziehen, können auch sie sich für Gleitsichtgläser entscheiden, die die Kurzsichtigkeit im Nahbereich nur schwach korrigieren.

Zwei Drittel aller Berufstätigen zwischen 25 und 54 Jahren arbeiten heute täglich am Computer. Wer altersweitsichtig wird und viel Zeit am Computer verbringt, sollte nach Ansicht des Kuratoriums Gutes Sehen e. V. überlegen, sich für die Arbeit eine spezielle Sehhilfe zuzulegen: Eine Gleitsichtbrille, deren Fernbereich nicht weit reicht, die dafür aber in ihrem großen mittleren Teil scharfes Sehen im üblichen Monitorabstand ermöglicht, während der untere Teil fürs scharfe Sehen der Tastatur oder der näher liegenden schriftlichen Unterlagen gedacht ist. Das Kuratorium weist darauf hin, dass solche Brillen auch helfen, beim stundenlangen Sitzen am Schreibtisch eine entspannte Haltung einzunehmen. „Deshalb können Bildschirmbrillen auch Nacken- und Rückenschmerzen vorbeugen – eine entsprechende Gestaltung des Arbeitsplatzes vorausgesetzt.“

Wo sollte man sich die Gleitsichtbrille anpassen lassen? Grundsätzlich können das Augenärzte und Augenoptiker. „Aber wer eine Gleitsichtbrille braucht, ist typischerweise über 40 Jahre alt, und ab diesem Alter sollte man ohnehin alle ein bis drei Jahre zum Augenarzt gehen“, sagt Eckert. Er findet deshalb, dass der Wunsch nach einer neuen Brille eine günstige Gelegenheit darstellt, mal wieder beim Augenarzt vorbeizuschauen. „Krankheiten wie den grauen und den grünen Star können wir gut erkennen, und wir können sie heute gut behandeln.“ Vor allem der grüne Star, von den Medizinern als Glaukom bezeichnet, kann unbehandelt zu Blindheit führen. Ein anderes Augenleiden, das meist im etwas höheren Alter beginnt und das zu großen Einschränkungen des Sehens führen kann, ist die Makuladegeneration, der fortschreitende Untergang von Sinneszellen der Netzhaut. Auch gegen diese Krankheit gibt es heute wirksame Medikamente. „Weil man so viel gegen diese Augenleiden machen kann, lohnt sich der regelmäßige Besuch beim Augenarzt“, sagt Eckert. Inzwischen wurden die Sehtests wesentlich verbessert. Mithilfe der sogenannten Wellenfrontmessung lässt sich heute auf eine Hundertstel-Dioptrie genau sagen, welche Stärke die Brille haben muss: Das Messgerät sendet einen Lichtstrahl ins Auge, der reflektiert und anschließend analysiert wird. Diese reflektierte Wellenfront ist der individuelle Fingerabdruck des Auges. Aus den Abweichungen werden die Abbildungsfehler des Auges berechnet. Nicht mehr Viertel-Dioptrien, sondern Hundertstel-Dioptrien sind heute der Maßstab für das Brillenglas.

Ist die Gleitsichtbrille dann beim Optiker bestellt und abgeholt, beginnt für viele ein neuer Lebensabschnitt. In den ersten Tagen kann es schon zum Abenteuer werden, eine Treppe zu besteigen. Man wird die Stufen notgedrungen etwas unscharf sehen, wenn man den Kopf weiter so hält wie gewohnt. Dann schaut man nämlich durch den unteren Teil des Brillenglases, durch den eigentlich nur die Gegenstände im Leseabstand von 30 bis 40 Zentimetern scharf zu sehen sind. Vor allem in den Randbereichen kann es auch zu leichten Verzerrungen und Verziehungen kommen, an die man sich aber durchaus gewöhnen kann. Der Lohn für die Mühen der Eingewöhnung ist schließlich auch nicht zu verachten: eine Allroundbrille, die nicht ständig auf- und abgesetzt werden muss, und die man folglich auch nicht so schnell verliert. „Das ganze Leben ist ein Kompromiss, aber die Gleitsichtbrille ganz besonders“, kommentiert Augenarzt Eckert trocken.

Adelheid Müller-Lissner

Adelheid Müller-Lissner

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