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Berlin: Der Glaube hilft, Schuld zu bekennen

Tausende kamen zu zentralen Gottesdiensten – auch der Bundespräsident und der Kanzler

Du sollst nicht töten. Die zehn Gebote, einfach und mächtig, vorgetragen von einer Frau und einem Mann, eröffneten den Gottesdienst zum 8. Mai, den die katholische, die evangelische Kirche und die Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen gestern Mittag in der St. Hedwigs-Kathedrale feierten. Töne aus einer einzelnen Klarinette bereiteten den Worten einen melancholischen Boden und öffneten den Kathedralenraum, in dem sich 1000 geladene Gäste versammelt hatten. Darunter Bundespräsident Horst Köhler und seine Frau, Bundeskanzler Gerhard Schröder und Gattin, das gesamte Bundeskabinett und die Vorsitzenden der großen Parteien. Im Altarraum saßen Würdenträger europäischer Kirchen, unter anderem aus Frankreich, Polen, England und Russland.

Bischof Wolfgang Huber, der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, erinnerte in seiner Ansprache daran, wie sehr die zehn Gebote zwischen 1933 und 1945 mit Füßen getreten wurden. „Stellvertretend für unsere Väter und Mütter bekennen wir, was in der Zeit des Nationalsozialismus gesündigt wurde.“ Auch „dass wir Deutschen uns nicht aus eigener Kraft von der nationalsozialistischen Herrschaft befreit haben“, gestand Huber. Der 8. Mai 1945 sei deshalb ein Tag der Befreiung – „auch wenn wir eingestehen, dass die Befreier keine Erlöser waren, sondern Menschen, die anderen Schweres zumuteten.“

Bei den Liedern sangen fast alle Kabinettsmitglieder mit, Innenminister Otto Schily und Familienministerin Renate Schmidt schien es sichtlich Freude zu machen. Kardinal Karl Lehmann, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, legte in seiner Predigt den Akzent auf das Leiden derjenigen, für die es am 8. Mai 1945 nichts zu jubeln gab – auch wenn dieser Tag „objektiv der Tag der Befreiung war“. Die Lasten der Nachkriegszeit seien ungleich verteilt gewesen. „Die Menschen im Osten trugen viel mehr die schwere Last der Katastrophe.“

Beide Geistlichen – Bischof Huber hatte bereits um 9.30 Uhr in der Gedächtniskirche die zentrale Predigt für die evangelische Kirche gehalten – betonten, wie vergesslich die Menschen seien und dass der Friede, den wir heute als selbstverständlich empfinden, „viel Tapferkeit, viel Ausdauer im Leiden und Mut zur Freiheit“ bedürfe. Der Glaube helfe, sich auch den dunklen Seiten der eigenen Biografie und des eigenen Volkes zu stellen. „Wenn wir das Erinnern nicht verlernen, haben wir Grund zur Hoffnung“, sagte Bischof Huber.

Der Gottesdienst in der Gedächtniskirche am Morgen war weniger staatstragend, dadurch aber auch lebendiger. Ein Bischof der anglikanischen Kirche, ein Metropolit der russischen Kirche und Jugendliche der Aktion Sühnezeichen wirkten mit. Schüler des Carl-Philipp-Emmanuel-Bach-Gymnasiums spielten selbst komponierte Musik. Mit Geigen, Klarinetten, Klavier und Schlagzeug riefen sie Assoziationen an fallende Bomben und Chaos wach, aber auch an einen Frühlingstag im Frieden. Ein kleiner Junge sang „Maikäfer flieg, dein Vater ist im Krieg...“ Hinter ihm auf dem Altar stand das Kreuz, das aus Nägeln der zerstörten Kathedrale im englischen Coventry geschweißt wurde und die „Madonna von Stalingrad“: eine Kohlezeichnung, auf der Maria in einem weiten Mantel ihr Kind birgt. Ein Arzt hatte es an Weihnachten 1942 im Kessel für seine Soldaten gemalt. „Leben, Licht, Liebe“, steht am Rand. Es wurde zum Zeichen der Versöhnung.

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