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Berlin: Der Hauptbahnhof als Quotenhit

Beim Pro & Contra waren sich die Leser 2006 einig: Das Glasdach soll verlängert werden. Ein Rückblick

Der Zeitungsleser ist eines der letzten großen Geheimnisse unserer sonst so gründlich erforschten Welt. Deshalb versucht der Tagesspiegel an jedem Sonntag herauszufinden, wie Leser über aktuelle Berliner Themen und Debatten denken – mit dem Pro & Contra. Übers Jahr ergaben die telefonischen Abstimmungen ein zwar nicht repräsentatives, aber interessantes Bild davon, was die Leser wie sehr bewegt.

Der dringendste Wunsch der Prioritätenliste geht an die Bahn: 97 Prozent der Anrufer wünschten dem Hauptbahnhof das längere Glasdach, das der Bahnchef ihm beharrlich verwehrt. Eine Chance auf Erfüllung dieses Wunsches haben sie nur, falls der Architekt auch deshalb tatsächlich vor Gericht zieht. Bei der berühmt gewordenen Flachdecke hat er ja schon gewonnen. Die Frage nach deren Ersatz durch das ursprünglich geplante Gewölbe brachte ebenfalls eine hohe Einschaltquote bei der Umfrage. Das Ergebnis fiel aber mit 72 Prozent für den originalgetreuen Entwurf nicht ganz so deutlich aus.

Was sich Bahnchef Hartmut Mehdorn beim Kerngeschäft verscherzt, könnte er bei seinen hochfliegenden Plänen für Tempelhof wiedergutmachen: 73 Prozent wollen, dass der innerstädtische Flughafen für Geschäftsflieger offenbleibt. Wie viele der Befürworter fern der Einflugschneise wohnen, wurde allerdings nicht erfasst.

Nun keimt der Verdacht, dass die Anrufer im Zweifel ohnehin mit dem Auto unterwegs sind: Für eine City-Maut konnten sich jedenfalls nur 27 Prozent erwärmen, und die kurz nach dem Ende von Weltmeisterschaft und Fanmeile abgefragte dauerhafte Sperrung der Straße des 17. Juni fand nur jeder neunte Anrufer gut. Aber wenn die Leute schon Auto fahren, dann gern vorschriftsmäßig: Fast drei Viertel votierten für die flächendeckende Installation von Blitzern. Bislang stehen gerade vier „Starenkästen“ in der Stadt – plus ein Dutzend Ampelblitzer. Demnächst will die Polizei mit kombinierten Geräten aufrüsten, um Dunkelgelb-Raser zu bremsen.

Dass Recht und Gesetz immer Konjunktur haben, zeigte sich mehrfach: null Toleranz in der Hasenheide? Jawohl, sagten 96 Prozent der Anrufer. Rauchverbot auch in Kneipen? 81 Prozent dafür. Freikartenverbot für alle Politiker? 75 Prozent. Strafmündigkeit schon ab zwölf statt erst für 14-Jährige? 94 Prozent sagten Ja.

Das Vertrauen in die Jugend scheint ohnehin nicht besonders ausgeprägt: Während einmalig geringe 1,6 Prozent der Anrufer 16-Jährige künftig an die Wahlurnen zum Abgeordnetenhaus lassen wollen, fanden sich für Schuluniformen sowie Pflichtkurse für Eltern vor der Einschulung ihrer Kinder satte Mehrheiten von fast 90 Prozent. Und wenn die Kinder dann größer sind, wird ihnen von der Leserschaft nicht einmal die Loveparade gegönnt: mehr als 96 Prozent wollen keine lebensverlängernden Maßnahmen für die Party von Dr. Mottes Erben. Die Wiederbelebung im kommenden Jahr ist noch ungewiss.

Vor allzu großer Euphorie scheinen die meisten ohnehin gefeit, denn anders ist das Nein von drei Vierteln zu einer Ehrenbürgerschaft Jürgen Klinsmanns kaum zu erklären – am Tag des WM-Finales wohlgemerkt, als in der Stadt die schwarz-rot-goldenen Fahnen wehten. Nur nicht bei unseren Lesern: Mehr als zwei Drittel hatten es bereits inmitten des Fußballtaumels abgelehnt, Flagge zu zeigen zur WM.

Nachdem die Gemütslage so weit geklärt ist, bleibt noch ein Rat an die Behörden: Es war gar nicht nötig, mit großem Hallo in die privaten Wettbüros einzureiten und das Etikett „verboten!“ draufzukleben. Zum einen könnte noch Ärger mit der EU anstehen. Zum anderen sind damit beim Volk keine Pluspunkte zu holen: Die weniger als 100 Anrufer waren ganz klarer Schnurzrekord.

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