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Kerzen vor dem Kanzleramt.

© Thilo Rückeis

Der Japan-Blues: Berlin fühlt sich normal an – und ist doch irgendwie anders

Durch die Medien kann jeder die Katastrophe in Japan verfolgen, im Berliner Alltag verschwindet das Grauen in der Ferne. Ein Gesprächsthema ist es aber. Und am Samstag finden Aktionen und Demos in Gedenken an die Opfer statt.

Der Mitarbeiter der japanischen Botschaft winkt und ruft: „Kommen Sie herein, aber Frau Merkel haben Sie verpasst.“ Er lacht sogar. Freitagmittag sind vor dem Botschaftsgebäude in der Hiroshimastraße noch immer Kerzen und Blumen drapiert, ab und an bleibt ein Passant stehen. Der Botschaftsmann begrüßt den Besucher per Handschlag. Im ersten Stock, dezent ausgewiesen, ist der Kondolenz-Raum.

Meist betritt diesen Raum nur hochrangiges Staatspersonal wie die Kanzlerin eben, Diplomaten oder Botschaftsangehörige. Am Ende des Saals stehen drei Tische mit weißen Decken, darauf jeweils ein Buch und ein feiner Tintenfüller. Links die japanische Fahne, an der Wand eine Landkarte der Insel, davor weiße Rosen. Normale Besucher kommen auch, sagt eine Mitarbeiterin, sie hat heute allerdings erst sechs in zwei Stunden gezählt.

Durch die Medien kann jeder die Katastrophe in Japan mitverfolgen, aber im Berliner Alltag verschwindet das Grauen in der Ferne. Berlin fühlt sich ganz normal an, wenn man dieser Tage durch die Stadt streift. Und doch ist was anders.

In der Zehlendorfer Clayallee etwa. Die Zahnarzthelferin Martina Heintze ist sauer auf ihre Chefs. „Wenn in Japan doch noch die atomare Massenpanik ausbricht, erfahren wir es als Letzte.“ Wenigstens ein Radio könnten die uns erlauben! Der Patient wird auf dem Zahnarztstuhl in Liegestellung gefahren und wundert sich über die Detailkenntnisse der jungen Frau. Die Windverhältnisse über dem japanischen Meer, die Mentalität der Betroffenen, die politischen Auswirkungen. Martina Heintze hat alles parat. Vor Dienstantritt hört sie nämlich Radio. Sie informiert sich. Und so flüchten ihre Gedanken gerade oft vor Skalpell, Amalgamfüllungen oder Karies.

Manchmal, mitten in der Arbeit, ist sie einfach nur traurig – das ist Heintzes Art der Solidarität, des Mitgefühls. Es ist kein bewusster Akt. Es geschieht einfach, wie zum Beispiel im U-Bahnhof, wenn dort auf dem Infoscreen für digitale Werbung Bilder aus Japan zu sehen sind. Dann bleiben die Menschen stehen, starren auf den Schirm und gehen wortlos weiter.

So wie Martina Heintze oder den Menschen auf den U-Bahnhöfen oder im Bus ergeht es den Allermeisten an einem ganz normalen Tag in Berlin, beim Abgeben der Kinder in der Schule, bei der Hetze zur Arbeit, beim Warten auf den Bus oder in der Mittagspause. Manche sind von einer merkwürdigen Unruhe erfasst, andere kümmert’s nicht weiter, denkt man. Bis zum nächsten Gespräch, mit dem Nachbarn etwa, dem danach wohler ist, weil er das Unfassbare mal besprochen hat, einfach so. Und in der Schule erfährt man von anderen Eltern, dass sie gerade einen ganz festen neuen Sendeplatz im Fernsehen entdeckt haben für sich – und die Kinder: Die Kika-Nachrichten um zehn vor acht. „Die erklären die Ereignisse in Japan so toll“, sagt eine Mutter, „selbst ich lerne da ganz viel.“

In der S-Bahn in Richtung Oranienburg fragt eine Frau ihren Nachbarn, ob sie nicht einen Teil der Zeitung haben dürfte. Und dann liest sie die Artikel über den verzweifelten Kampf der Japaner. Sie bleibt so vertieft, dass sie beim Aussteigen vergisst, die Zeitung zurückzugeben.

Das normale Leben bietet nicht ständig Platz für Leid und Zerstörung. Und das ist ja auch gut so, anders wäre es nicht auszuhalten. Trauer und Mitgefühl sind keine Pflichtveranstaltung, nicht überall sind Menschen bewegt. In den Potsdamer Platz Arkaden flimmern keine Nachrichten über die neu installierten Riesenleinwände, sondern Frauen mit makellosen Körpern und knappen Bikinis. Draußen im Regen steht ein Kamerateam und befragt Passanten zur Atomfrage, im Sony-Center besuchen japanische Touristen das Museum für Film und Fernsehen. Vielleicht ist es doch gut so, dass auf dem großen Bildschirm vor dem Eingang gerade nur Eisberge zu sehen sind.

Spätestens im Taxi wird man wieder eingeholt vom schlechten Gewissen, das irgendwie da ist, weil der Fahrer Nachrichten hört und einen erschütterten Eindruck macht. Der Mann ist Kroate, aber gerade hat er einen Siemens-Manager vom Flughafen Tegel zum Potsdamer Platz gefahren und jetzt muss er darüber reden. Der Siemens-Manager sei aus Japan zurückgekehrt und „war völlig runter mit den Nerven“. Der habe erzählt und erzählt. Und am Ende habe er gesagt, dass „er niemals wieder nach Japan gehen werde, und wenn sie ihn entlassen“.

Nach so einem Gespräch sind die eigenen Gedanken wieder schwer, zumal man beim Aussteigen in der Nähe der Friedrichstraße an zwei Sushi-Bars vorbeikommt, wo zur Mittagszeit niemand drin sitzt. Es läuft der Nachrichtensender „n-tv“, die Angestellten sitzen mit dem Rücken zum Eingang und gucken auf den Fernseher. Gehen die Leute nicht rein, weil es ihnen unangenehm ist, so, wie wenn beim Nachbarn ein Familienmitglied gestorben ist? Pietät ist eine schwierige Sache. Soll man schweigen? Hilft Reden immer? Vor dem Brandenburger Tor stehen japanische Touristen und fotografieren. Man zwingt sich jetzt zur Einsicht, dass das doch völlig normal sei. Aber ansprechen, fragen, wie es sie in diesen Tagen denn hierher verschlagen hat? Lieber nicht.

„Es liegt im Stillesein eine wunderbare Macht der Klärung, der Reinigung, der Sammlung auf das Wesentliche“, hat der Theologe Dietrich Bonhoeffer gesagt und ist mit diesem Satz im Raum der Stille am Brandenburger Tor verewigt. „Mehr Gäste als sonst sind in den letzten Tagen nicht hierher gekommen“, sagt die Frau am Info-Stand. Paul aus Essen ist einer von ihnen, er sagt beim Rausgehen: „Japan? Nee. Daran hab ich nicht gedacht.“

Viele Kilometer weiter südlich läuft man an der Rudi-Dutschke-Straße vorbei und sieht im beschaulichen Dahlem die Freie Universität wie ein Ufo in der Landschaft liegen. Studentenführer wie Dutschke gibt es nicht mehr, noch nicht mal Studenten, denn es sind ja auch Semesterferien. Im Hauptgebäude, blaue Straße, sitzt einsam ein Mädchen im ökologisch korrekten Café Kauderwelsch und liest ein Buch. Demos gegen Atomenergie? Veranstaltungen zur aktuellen Lage? „Nö“, sagt die Studentin, „weiß ich nichts von.“ Tatsächlich gibt es kein einziges Plakat zu sehen, kein Aufruf, gar nichts. Japan und die Atomdiskussion finden hier zurzeit nicht statt. Ein paar Meter weiter in der idyllisch gelegenen Ehrenbergstraße, am Institut für Japanologie, ist die Sekretärin genervt. Spürt sie Auswirkungen hier? „Was für Auswirkungen? Na ja, meine Chefin muss ständig Interviews geben.“

Vor dem Kanzleramt steht Frauke Fehrmann im strömenden Regen. Am Gitter liegt ihr Mischlingshund, sie hat Sonnenblumen ans Tor gehängt, Kerzen angezündet und gehört zur ständigen Mahnwache gegen Atomkraft sozusagen vor Merkels Haustür. Aber es kommt kaum jemand vorbei. Fehrmann friert und ist nass. Zwei Mütter mit Fahrrad sind noch da und erzählen, über Facebook gebe es für Samstag Aufrufe für Spontanaktionen in Kreuzberg. Fehrmann freut sich, aber ein bisschen einsam fühlt sie sich schon. „Ich hätte gedacht, es kommen wirklich mehr.“ Sie seufzt.

Auf einem Blatt im Blumenmeer vor Japans Botschaft hat einer den dänischen Philosophen Sören Kierkegaard zitiert: „Man kann das Leben nur rückwärts verstehen, aber man muss es vorwärts leben.“

Ein Gedenkkonzert für die Opfer der Katastrophe in Japan findet am heutigen Samstag, 20 Uhr, im Berliner Dom statt. Am Sonntag öffnen viele Evangelische Kirchen um 18 Uhr ihre Türen zum Gebet oder für Andachten. Samstag von 11 bis 18 Uhr werden auf dem Alexanderplatz 1000 weiße Stoffbeutel mit einem roten Punkt für fünf Euro verkauft und der Gewinn dem Roten Kreuz übergeben. Die Mahnwache am Kanzleramt geht weiter, zudem wollen mehrere Aktivisten am Samstag vor dem Reichstag und in der Stadt spontane Demonstrationen organisieren.

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