zum Hauptinhalt

Berlin: Der Kampf um die Seelen der Junkies vom Strich

Wie die Kirchen an der Kurfürstenstraße mit den Problemen vor ihrer Tür umgehen

Dort, wo die Frauen arbeiten, wird es jetzt abends empfindlich kalt. Jennifer hat einen kurzen rosafarbenen Rock an, Nylonstrümpfe mit Laufmaschen und hochhackige Sommersandalen. So steht sie auf der Kurfürstenstraße und wartet auf Kunden. Auf ihrem weißen T-Shirt unter der Jeansjacke prangt ein Herz aus Strasssteinchen. Die Kurfürstenstraße ist Berlins berühmtester Straßenstrich. Tagsüber gehen dort vor allem junge drogenabhängige Frauen ihrer Arbeit nach, nachts kommen die professionellen Prostituierten hinzu, die ein bisschen aussehen wie Barbie-Puppen.

20 Meter weiter von Jennifer steht an diesem Mittwochabend eine andere Frau. Sie steht am Herd. Sie ist 31 Jahre alt und kommt gleich auf einen zu und sagt: „Hallo, ich bin die Mona.“ Sie ist mit Andreas Fuhr verheiratet, dem Pfarrer von der evangelischen Apostelkirche, dem frei stehenden Backsteinbau an der Kurfürstenstraße. Die Menschen mit dem suchenden Blick vor ihrer Haustür, die jungen Frauen, die auch im Winter nur mit wenig an auf der Straße stehen, gehören zu ihrem Leben dazu. „Ich musste erstmal lernen, dass Junkies Menschen sind wie alle anderen auch“, sagt Mona, „da sind Doofe drunter und Intelligente.“ Das Einzige, was sie unterscheide: Sie sind süchtig und ihre Droge ist illegal.

Jeden Mittwoch kochen Mona und zehn weitere Helfer für Jennifer und die anderen Süchtigen. Dann decken sie im gelb gestrichenen Gemeinderaum im Keller weiße Plastiktische mit Blümchendecken und bauen ein Buffet auf. „Ich brauch mal ’n Kaffee“, sagt Jennifer und kommt die Treppe runter. „es läuft nicht gut.“ Sie zittert, so dass der Kaffee über den Plastikbecher schwappt. Einen Moment setzt sie sich, schlingt hastig ein Stückchen Apfelkuchen hinunter. Dann holt sie sich im Nebenraum noch ein paar Kondome und packt sie in ihr durchsichtiges Plastiktäschchen, in dem auch ein kleiner Stoffbär steckt. Dann geht sie wieder: „Muss weitermachen. Hab noch nicht genug zusammen für den nächsten Knaller.“

Viele der 30, 40 Prostituierten und Junkies, die an diesem Mittwochabend im Gemeindezentrum Kartoffelsuppe und RucolaSalat essen, ihre Spritzen tauschen und frische Kleider mitnehmen, kennt Mona schon seit Jahren. Sie plaudert mit ihnen und ist neugierig auf ihre Geschichte von da draußen. Nach der Wende, als Pfarrer Fuhr neu in der Apostelkirche war, kamen die Prostitutierten aus Westdeutschland, aus dem Umland und aus allen Berliner Stadtteilen hierher. Tausende Spritzen wurden da an einem Mittwoch getauscht, heute Abend sind es rund 500. Die Polizei hat aufgeräumt, sagt Andreas Fuhr, die Szene hat sich über die ganze Stadt ausgebreitet.

Dirk ist der Kurfürstenstraße treu geblieben. Er sagt, er sei „Mitternachtsschlosser“ und spezialisiert aufs Autoknacken. Weil er Angst vor Nadeln hat, raucht er das Heroin. Und wegen des Heroins muss er sich ständig kratzen. Er erzählt, dass er sich vor acht Tagen verliebt habe, und dass er jetzt eine Familie haben will mit zwei Kindern. „Das ist toll“, sagt Mona, „mach das“. Sie käme nicht auf die Idee, mit Dirk jetzt ein Gespräch darüber anzufangen, dass er doch einen Entzug machen könnte. Wenn er von sich aus auf die Idee käme, würde sie ihm helfen. „Niemand muss in Berlin auf den Strich gehen und Heroin spritzen“, sagt Mona, „alle könnten aufhören, wenn sie wollen.“ Wer weitermacht, tue das freiwillig. Mona akzeptiert das. „Jeder soll so leben, wie er will.“ Die Drogenpolitik sei eine Katastrophe, weil sie immer noch das Ideal einer drogenfreien Welt habe. „Das ist verlogen“, sagt Mona. Stattdessen sollten sich die Leute lieber an ein Leben mit Drogenabhängigen gewöhnen. Das sehen einige in der Apostelgemeinde anders. Sie wollen nicht morgens über gebrauchte Spritzen auf dem Fußweg steigen und werfen den Fuhrs vor, die Junkies anzulocken

Auch Martin Proschmann von der Freikirche Teen Challenge sieht das anders. Er kämpft immer montags um die Seele der Junkies – fünfzig Meter die Kurfürstenstraße runter Richtung Potsdamer Straße. In seiner Teestube werden keine Spritzen ausgegeben, auch keine Kondome und keine Kleider. Es gibt belegte Brötchen und Tee. Proschmann will die Süchtigen wegholen von den Drogen und nicht durch neue Spritzen den Ist-Zustand verlängern. Und wie das gehen soll, weiß Martin Proschmann auch: „Der Glaube an Jesus Christus hat die Kraft, die Menschen zu verändern.“

Die Teestube im renovierten Kohlenkeller ist mit Holz verkleidet, an einer Seite steht eine Bar, so wie in den Partykellern in den 80ern. Wir treffen Jennifer wieder, im gleichen Minirock und T-Shirt, an der Hand das Plastiktäschchen. Heute hat sie noch eine Sonnenbrille auf mit rosa getönten Gläsern. Sie lässt sich in eins der Sofas fallen, die um einen Tisch herum stehen und hört zu, wie Proschmann, der Mitte dreißig ist, das „Wort zum Montag“ spricht: „Ich aber bin gekommen, damit sie das Leben haben im Überfluss.“

Dann stellt Martin den besonderen Gast des Abends vor: einen jungen Mann Anfang zwanzig mit Ziegenbärtchen, Jeans und blauem T-Shirt. Er erzählt, wie er mit 15, 16 nur Partys im Kopf hatte, nach einer Weile aber gemerkt habe, dass seine Freunde keine richtigen Freunde waren. Jennifer neben ihm macht die Augen zu. Der junge Mann ist jetzt bei der entscheidenden Wende in seinem Leben: Ein Freund hat ihn zur Bibel geführt. Auf Knien habe er zu Gott gebetet und: „Ja echt, ich hab Jesus gespürt.“ Das sei besser als jeder Vollrausch. „Ich will euch ermutigen, es auch zu versuchen mit Gott.“ Martin Proschmann ergänzt: „Wer beten will, kann in den Nebenraum gehen, da sitzt den ganzen Abend jemand und hilft beim Beten.“

Bernd vom Teen-Challenge-Team notiert die Namen und Gespräche mit den Süchtigen in einem Notizblock: „damit ich sie ins Gebet einschließen kann“. Er erzählt von einer Prostituierten mit einem offenen Bein. Nachdem er für sie gebetet habe, sei das Bein verheilt. Die Teestube gibt es seit 28 Jahren. In den vergangenen zwölf Monaten hat ein Süchtiger mit Hilfe der Freikirche eine Therapie angefangen. Jennifer steht auf und geht. Ob sie der Kuchen bei Mona Fuhr oder die geistige Nahrung bei Martin Proschmann besser wärmt, ist ihr nicht anzusehen. Für sie zählt jetzt nur eins: „Ich muss mal eben zum Dealer und mir einen Knaller setzen.“

Zur Startseite