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Berlin: Der König der Leser

Er ist der Marcel Reich-Ranicki des Internets. Jeden dritten Tag rezensiert er bei Amazon. Warum?

Werner Fuchs mag Inszenierungen. Auf seine Internetseite hat er vier Lebensläufe gestellt, einen in Anekdoten, einen in Bildern. Inszenierung, Stilisierung – ja, Verstellung – nein, das mag er gar nicht. Deshalb schätzt er auch die Politik nicht, da verstellen sich zu viele. Das hat er gemerkt, als er selbst mal in einer Partei war, der SP, der Partei der Schweizer Sozialdemokraten. Er ist dann wieder ausgetreten.

Eines der Fotos auf seiner Internetseite zeigt einen graumelierten Herrn, 52 Jahre alt, der mit weißem Hemd, Fliege und Jackett vor einer Bücherwand posiert. In der Wirklichkeit steht dann ein Künstlertyp auf dem Berggipfel und blinzelt in die Sonne: Beuys-Hut, langer Mantel, rote Turnschuhe. Werner Fuchs hat seinen Gast vom Bahnhof abgeholt und ist mit ihm direkt auf die Spitze des Zuger Berges gefahren.

Die Szene an diesem Wintermorgen hat etwas Symbolisches. Werner Fuchs steht an der Spitze. Er ist „Top-Rezensent“ des Online-Buchhändlers Amazon, die Nummer eins unter 70000 Kunden, die Bücher besprechen. Dass Amazon seinerseits Nummer eins ist, Marktführer der Online-Buchhändler, und die Kundenkritiken viel gelesen werden, macht Werner Fuchs aus Zug in der Schweiz zu einer Art Marcel Reich-Ranicki des deutschsprachigen Internets. Zum Chefkritiker.

Fuchs hatte völlig anderes im Sinn, als er vor gut acht Jahren seine ersten Besprechungen veröffentlichte. Er suchte Arbeit, ein ehemaliger Journalist, ehemaliger Schuldirektor. Das örtliche Arbeitsamt stellte ihn gleich selber ein, er sollte Arbeitslosen Tipps geben, wie man sich richtig bewirbt. „Wir haben versucht, auf der Höhe der Zeit zu sein – mit einer Internetseite, auf der ich Bewerbungsratgeber besprochen habe.“ Nach dreieinhalb Jahren gründete er seine PR-Agentur. Weil es damals, 2001, hieß, das Amt werde wohl bald geschlossen, dachte sich Fuchs: Wäre doch schade, wenn die Internetseite verschwände und seine 350 Kritiken gleich mit. Also überspielte er seine Rezensionen auf den Amazon-Server. Seitdem ist er Kritiker.

Werner Fuchs hat unter anderem Germanistik studiert – weil er gerne las. In den vergangenen drei Jahren aber veröffentlichte er jeweils rund 100 Rezensionen. Macht alle drei, vier Tage ein Buch, das er kauft, liest und bespricht. Auch für einen passionierten Leser ist das eine Menge. Zudem kriegen die Kundenkritiker kein Geld, im Gegenteil. Amazon bezahlt nichts und die Verlage stellen keine kostenlosen Besprechungsexemplare. Warum also macht einer das jahrelang?

„Anfangs war es so eine Art Verewigungstrieb.“ Irgendwann, sagt Fuchs, sei es „das uralte Ding“ gewesen: der Ehrgeiz, Erster zu sein. Er gesteht, dass er sogar mal manipulieren wollte, sich mehrere Internet-Identitäten zulegen und Freunde und Bekannte auffordern wollte, ihn oft und gut zu bewerten.

Dazu muss man wissen, dass die Amazon-Kritiker von den Kunden gewählt werden. „War diese Rezension hilfreich?“ steht neben den Besprechungen – der Leser kann mit ja oder nein antworten. Wer viel positive Resonanz auf möglichst viele seiner möglichst zahlreichen Rezensionen erfährt, steigt in der Rangliste. Fuchs sagt, er habe dann doch nicht betrogen. „Es wäre erbärmlich gewesen. Aber interessant ist, dass man überhaupt auf die Ideen kommt, oder? Ich war überrascht, dass ich auch so bin.“

Manipulationen der Rangliste seien so gut wie ausgeschlossen, sagt eine Pressedame von Amazon. Es gibt genügend Menschen, die sich mit Computern auskennen und das Gegenteil behaupten. Wie auch immer. Seit gut einem halben Jahr ist Werner Fuchs oberster Amazon-Rezensent, seitdem bekommt er viele Mails von Lesern und sogar Manuskripte von Autoren, die ihn nach seiner Meinung fragen, manchmal auch eine neidische Zuschrift von einem hinter ihm platzierten Kollegen. Vor allem aber bringt es seine Netz-Prominenz mit sich, dass Fuchs mit jeder Rezension zugleich kostenlose Werbung für sich macht. Denn er tritt im Netz als „Propeller Marketingdesign“ auf, mit dem Namen seiner Agentur.

Zudem schreibt er gerade ein Sachbuch über Marketingstrategien, darüber, was es für die Werbe- und PR-Branche bedeutet, wenn vermeintlich kühl kalkulierende Manager großer Firmen nicht der Vernunft folgen, sondern ihrem Gefühl. „Ein Thema, bei dem man klar schreiben muss, damit die Leute einen verstehen“, sagt Fuchs. Ob ihm das gelingt, erfahre er durch die Resonanz auf Kritiken über ähnliche Bücher. „Das ist Marktforschung. Kein Leser findet eine Rezension gut, die er nicht versteht.“

Auch wenn er verstanden wird, sein erstes Buch wird ihm keine großen Einnahmen bescheren, das sagt Fuchs selbst. Es geht ihm ums Prestige. Im Februar soll das Buch gedruckt werden, und da die Zeit drängt, war er in den vergangenen Wochen kaum in der Agentur. Er schrieb und schlug Aufträge aus, die er „finanziell gut hätte brauchen können“. Neulich aber gab es eine Anfrage, die gutes Geld verhieß. Ein deutscher Verlag, der sich auf Herzschmerzbücher versteht, wollte wissen, ob er nicht das Leben seiner Tochter beschreiben könne? Man sei über Amazon auf seinen Lebenslauf aufmerksam geworden. Es war passiert, was Fuchs mit seinen Rezensionen erreichen will – man schenkte ihm Aufmerksamkeit, gab ihm sogar einen Auftrag.

In diesem Fall aber zögert er. Olivia, seine Tochter, war von Geburt an schwer behindert. Vor zwei Jahren starb sie, 15-jährig, nach einem epileptischen Anfall. Fuchs sagt: „Mal sehen“, und sein offenes Gesicht verschließt sich für einen Moment. Er heftet seinen Blick auf den Boden, als suche er dort eine Lösung. „Wenn ich das Gefühl habe, es gelingt mir, keinen Kitsch zu produzieren, werde ich es vielleicht machen. Im Moment fehlt mir der Abstand.“

Als seine Tochter noch lebte, wachte er nächtelang, aus Angst, sie würde wieder einen Anfall bekommen. „Ich habe meistens gelesen.“ Und die Bücher hat er dann am nächsten oder übernächsten Tag rezensiert, im Büro, über Mittag oder nach der Arbeit. Er las Romane, mit Muße, stülpte jedes Wort um. Dann wurde er immer schneller, er verschlang Fachbücher über PR und Werbung, las zuletzt nur noch quer. Seitenscannen für die Produktion. Eine Stunde fürs Lesen, eine halbe für die Kritik. „Mit dieser Art Literatur gehe ich fast schematisch um. Ich weiß, welche Teile die wichtigen sind, die sehe ich mir an. Welcher Ansatz ist neu, welcher gut?“

Werner Fuchs sagt, dass er die Freiheit des Internet-Rezensenten schätzt, keinen Chef zu haben und keiner Zensur zu unterliegen. Für eine Zeitung würde er anders schreiben, „offizieller“, mit mehr Hintergrund. Bei Amazon gehe es darum, dass man das Gefühl des Lesers trifft. Für seine Agentur wirbt er mit Slogans wie: „Wir erfinden Geschichten, verführen, vermitteln Sinn und wecken starke Gefühle.“ Andererseits sind Gefühle der Grund, warum er Bücher nicht besprechen will, die unbekannte Autoren ihm schicken. „Würde ich nur tun, wenn ich sie klasse fände.“ Verrisse zu schreiben, das sei nicht seine Aufgabe. Die Dolchstöße sollen die Berufskritiker führen.

Marc Neller[Zug]

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