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Berlin: Der Landarzt und Godot

Kleine Geschichten von oder über Menschen, die auf den Arzt warten, die stehen hier jeden Montag. Heute: unser Literaturkritiker Marius Meller übers Lesen im Wartezimmer.

Kleine Geschichten von oder über Menschen, die auf den Arzt warten, die stehen hier jeden Montag. Heute: unser Literaturkritiker Marius Meller übers Lesen im Wartezimmer.

Was ein Literaturkritiker im Wartezimmer liest? Natürlich lese ich „Bunte“, „Gala“ und „Herzblatt“. Mit größtem Vergnügen sogar. All das fehlt einem Literaturkritiker im gesunden Leben nämlich. Ich blicke dabei nicht von oben herab auf die LesezirkelHefte auf dem Ikea-Tischchen mit Topfpflanze. Ich weiß, dass das der Stoff ist, aus dem Literatur gemacht ist: Klatsch. In meiner alten Heimat, in der Universitätsstadt Heidelberg, wo alle Taxifahrer Doktortitel haben, gab es einen Arzt, der keine Lesezirkel-Heftchen im Wartezimmer liegen hatte, sondern nur hohe Literatur. Das funktionierte nicht. Alle Patienten, auch die Professoren, brachten sich Illustrierte mit.

Andererseits: Ich glaube daran, dass Bücher die Menschen besser machen. Natürlich nicht schlechte Bücher, sondern nur gute. Dafür ist er ja da, der Literaturkritiker, er soll helfen, herauszufinden, welches das passende gute Buch für jemanden ist. Darin ähnelt er durchaus dem Arzt. Und so habe ich mich öfters dabei ertappt, im Wartezimmer von einer spontanen „Warten auf Godot“-Lesung mit verteilten Rollen zu träumen, oder einer Rezitation von Kafkas Erzählung „Der Landarzt“, in dem das merkwürdige Kinderlied vorkommt: „Freuet euch, ihr Patienten, der Arzt ist euch ins Bett gelegt!“

Wenn ich einmal arbeitslos bin, werde ich meine Dienste einer Arztpraxis anbieten: zur Leseberatung im Wartezimmer. Aber keiner soll ein schlechtes Gewissen haben, weil er lieber „Bunte“ lesen will. Klatsch macht gesund.

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