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Behinderte Menschen müssen sich in Berlin mit langsamen Behörden herumschlagen.

© dpa

Der lange Weg zum Ausweis: Behinderte verzweifeln an Berliner Behörden

Ärztliche Gutachter trödeln, Fachpersonal ist schwer zu finden, Bearbeiter dürfen weniger entscheiden: In Berlin müssen Betroffene bis zu einem Jahr warten, um als Schwerbehinderte anerkannt zu werden.

Zehntausende Berliner, die an den Folgen einer schweren Krankheit oder eines Unfalls leiden, werden in der Hauptstadt durch die Bürokratie zusätzlich belastet: Zwischen sechs Monaten und einem Jahr dauert derzeit das Verfahren der Anerkennung als Schwerbehinderter – im Bundesschnitt sind es nur 13 Wochen. Dies liegt Kritikern zufolge an unnötigem Verwaltungsaufwand, Fachpersonalmangel und unkooperativen Ärzten. „Es kann nicht sein, dass Behinderte zusätzlich durch die Gesellschaft behindert werden und einen Hürdenlauf bei Ämtern und Ärzten absolvieren müssen“, sagt die Sprecherin des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes in Berlin, Elfi Witten. Sie fordert, das Verfahren „zu vereinfachen und kundenfreundlicher zu machen“. Die Bündnisgrünen regen an, die Behörde personell sinnvoll umzustrukturieren. Die Linke fordert eine neue, gesetzliche Bearbeitungsfrist von nicht mehr als fünf Wochen. In anderen Bundesländern dürfen Bearbeiter in einfachen Fällen selbst über eine Anerkennung entscheiden – in Berlin läuft eine aufwendige Maschinerie an. Nur Berufstätige sowie Menschen, denen etwa durch eine Krebserkrankung der Tod droht, werden im Verfahren vorgezogen.

Ohne Ausweis gibt es keine Ermäßigungen, keinen Zuschuss

Nur wer von den Behörden als Schwerbehinderter anerkannt wird, kann die sogenannten Nachteilsausgleiche in Anspruch nehmen; dazu zählen Mietzuschüsse, BVG-Ticketvergünstigungen, Anrecht auf einen Parkplatz oder die Telebus-Berechtigung. Nur die Unkündbarkeit am Arbeitsplatz greift ab dem Zeitpunkt der Antragstellung. „Wir bekommen sehr häufig Beschwerden, dass sich alles monatelang hinzieht und Betroffene keinen Zwischenbescheid bekommen“, sagt Heike Schwarz-Weineck, stellvertretende Landesbeauftragte für Menschen mit Behinderung.

Dabei werden wegen der alternden Gesellschaft immer mehr Menschen Formulare und Befunde beim Versorgungsamt des Landesamtes für Gesundheit und Soziales (Lageso) einreichen. 2011 zählte die Behörde 72 638 Anträge, teilte Pressesprecherin Silvia Kostner mit. Die Zahl der anerkannten Schwerbehinderten durch alle Altersgruppen in der Stadt steigt seit Jahren: von 556 334 im Jahr 2003 auf 593 935 im vergangenen Jahr (siehe Grafik). Laut Prognose des Versorgungsamtes sollen 2030 allein rund 819 000 Senioren, zum großen Teil mit Schwerbeschädigung, in der Stadt wohnen. Dazu kommt laut Behindertenbeauftragter Heike Schwarz-Weineck eine hohe Dunkelziffer von Berlinern, die aus Scham oder Angst, den Job zu verlieren, keinen Antrag stellen – oder körperlich-seelisch nicht in der Lage dazu sind.

Mahnungen, Nachforderungen, immer wieder neuerliche Arztgänge

Die Wirbelsäule macht den Berlinern Probleme, die Psyche, Herz und Kreislauf

Die meisten Schwerbehindertenausweise werden nach Auskunft von Lageso-Sprecherin Kostner nach Diagnosen von Orthopäden wegen Funktionseinschränkungen der Wirbelsäule, von Ärzten für psychische Krankheiten sowie wegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen ausgegeben. „Gerade bei Orthopäden und Neurologen gibt es aber einen Mangel an Ärzten“, sagt Berlins Behindertenbeauftragte. Laut Lageso sei es zudem schwer, überhaupt Ärzte zu finden, die bereit sind, für das Entgelt von 15 Euro ein Gutachten auszustellen – andere Patienten bringen mehr Geld. Das Lageso hat auf dem Papier 130 externe und 20 interne Gutachter sowie 110 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Schwerbehindertenbereich. Die Stellen sind wegen der geringen Bezahlung und der aufwendigen Arbeit schwer zu besetzen,

Um die Bearbeitungszeit für einen Erstantrag von durchschnittlich 154 Tagen und bei einer Neufeststellung von 186 Tagen zu verkürzen, ist vor rund einer Woche das neue Computerverfahren „Osavweb“ eingeführt worden, es soll in sechs bis 12 Monaten greifen. „Da sind uns einige Ärzte abgesprungen, die sich nicht einarbeiten wollten“, sagt Silvia Kostner. „Und wir haben trotz unseres engagierten Personals und neuen Beschwerdemanagements immer noch große Probleme damit, dass die niedergelassenen Ärzte und Kliniken erst mal zwei bis drei Monate Zulieferungszeit beanspruchen.“

Es gebe unnötigen Arbeitsaufwand durch überflüssige Untersuchungen, so Kritiker

Mahnungen, Nachforderungen, immer wieder neuerliche Arztgänge – all dies könne man den ohnehin eingeschränkten Menschen und Angehörigen nicht über Monate zumuten, kritisiert Paritäter-Sprecherin Elfi Witten. „Man sollte zur Erleichterung prüfen, ob es wie bei den Pflegestützpunkten auch Schwerbehindertenstützpunkte geben kann oder eine Einrichtung mit vielen Gutachtern in einer Art Ärztehaus.“ Allerdings seien Ärzte schwer zu finden, die dann nur für die 15 Euro behandeln beziehungsweise den Zustand des Patienten prüfen würden, heißt es beim LaGeSo. Da müsste dann Kritikern zufolge möglicherweise eine andere Lösung der Bezahlung gefunden werden. Die sozialpolitische Sprecherin der Bündnisgrünen, Jasenka Villbrandt, regt an, das Verfahren „endlich zu entbürokratisieren und sich auf die wirklich schwierigen oder strittigen Fälle zu konzentrieren“. Es gebe auch unnötige Nachprüfungen, etwa bei Amputierten. Und die sozialpolitische Expertin der SPD, Ülker Raziwill, sagt: „Wir haben das Problem bei den Haushaltsberatungen thematisiert und müssen Abhilfe im Interesse der Bürger schaffen.“ Im Parlament soll das Thema jetzt behandelt werden, der Petitionsausschuss hat auch schon mehrfach Beschwerden weitergegeben.

Die behindertenpolitische Sprecherin der FDP- Bundestagsfraktion, Gabriele Molitor, lobte unterdessen den geplanten neuen Behindertenausweis im Scheckkartenformat auch mit englischer Beschriftung ab 2015. "Mit dem neuen Behindertenausweis müssen sich auch Menschen mit unsichtbaren Behinderungen nicht mehr in der Öffentlichkeit als Behinderte oder Behinderter outen", so Molitor. Das jetzige Papier ist taschenbuchgroß. Wer die Kosten für die Herstellung der neuen Plastikkarte trägt, ist laut der Berliner Behindertebeauftragten aber noch unklar.

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