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Winfried Müller

© privat

Nachruf auf Winfried Müller: Der Mann im Turm

Im "Werk für Fernsehelektronik" war er für die Ziffernröhren zuständig. Und später fürs Archiv

Wo ist der Vater? Im Keller. Wo ist der Sohn? Auch im Keller. Denn der Keller war ihr Reich. Da schraubten, sägten und schliffen sie. Der Vater zeigte, wie es ging, Winfried machte es nach. Der Vater zeigte ihm auch, wie man Filme in die Kamera legt, wie man Fotos macht und wie in der Dunkelkammer das Bild nach und nach zum Vorschein kommt.

Außerdem gab es diesen einen Lehrer, der mit seiner Begeisterung für alles Technische die Jungs der Klasse ansteckte. Nach dem Unterricht lötete er mit ihnen, ließ sie Stromverbindungen stecken oder mit Elektronenröhren hantieren. Er zeigte ihnen, wie sie selbst Radios bauen konnten, Lautsprecher und Verstärker.

Winfried ließ sich gern begeistern. Es gibt noch diesen handgeschriebenen Weihnachtszettel, acht oder neun Jahre muss er da gewesen sein. Um sie an seine selbst gebaute Dampfmaschine anzuschließen, wünschte er sich einen Ventilator, einen Transformator und einen Scheinwerfer.

Für die Schule brannte er weniger. Einmal blieb er sogar sitzen. Doch schlimm fand er das nicht. Das Leben da draußen war spannend genug. Mit dem Fahrrad düste er durch Oranienburg, trieb sich mit seinen Freunden in den Ruinen und Bombenkratern herum und hatte eine Menge Unsinn im Kopf. Doch egal was, sein Vater schien immer Bescheid zu wissen, was er angestellt hatte. Natürlich gab es Ärger, geschlagen wurde Winfried aber nie. Liebevoll waren die Eltern mit ihm und mit seiner jüngeren Schwester.

Spezialröhren für alle Fälle

Groß gewachsen und schlank war Winfried Müller, gut sah er aus. Auf einem Foto lehnt er lässig an einem Geländer, ein Zigarillo im Mund, die Sonnenbrille auf der Nase, die Haare verstrubbelt. Klar war er bei den Mädchen beliebt, Christa hatte es ihm besonders angetan. Sie war ein paar Jahre jünger und tanzte mit ihm auf dem Schulball. Sie heirateten und bekamen zwei Kinder.

9000 Menschen arbeiteten im „Werk für Fernsehelektronik“ in Oberschöneweide. Sie produzierten Elektroröhren, die in Radios und Fernsehgeräten verbaut wurden. Es gab auch eine Reihe von Spezialröhren für große Sendeanlagen und Kameras und Mikrowellenröhren für Radaranlagen. Oder Röhren für Wettermessgeräte, für die Raumfahrt, das Militär und für digitale Wohnraumuhren. Es wurde am Fließband gearbeitet, und es wurde geforscht. Auch die kleinen Überwachungskameras der Stasi wurden bestückt sowie Geräte, mit denen der Westrundfunk gestört wurde.

Winfried Müller landete in der Abteilung Anwendungstechnik. Sein Spezialgebiet waren die Ziffernröhren, die man für die Anzeigen in Fernsehern, Radios und Fahrstühlen brauchte. 20 Leute waren sie, Chefs und Kollegen waren eng miteinander. Gab es eine neue Stelle zu besetzen, achteten sie darauf, dass kein Parteisturkopf zu ihnen kam, der ihnen den Spaß verdarb. Politik fand draußen statt, damit hatten sie nichts am Hut. Sie machten hier nur die Technik. So sahen sie das.

Das Innenleben des Verstärkers

Spaß machte es Winfried Müller, eine „Wendeltopffalle“ zu konstruieren, ein Gerät, mit dem das Zweite Deutsche Fernsehen aus dem Westen besser empfangen werden konnte. Verboten, klar. Spaß machte es ihm auch, Teile aus dem Werk zu schmuggeln, mit denen er sich zu Hause einen kompletten Fernseher selbst bauen konnte, oder einen Plattenspieler mit Lautsprecherboxen für seine Töchter. Jetzt war er es, der seine Kinder mit in den Keller nahm und ihnen zeigte, wie man sägte, schraubte und lötete.

Und dann waren da die Radios, die er reparierte und sammelte, ein ganzer Raum voller Radios. Er schrieb Fachartikel für die Zeitschrift „Radio, Fernsehen, Elektronik“. Einmal machte er das Titelfoto, darauf das Innenleben eines Verstärkers und seine Tochter. Dann war da noch seine Modelleisenbahn-Platte, eine detailgetreue Miniaturwelt, in der er selbst die Signalarme neben den Gleisen heben und senken konnte. Er ersann einen Automaten zur Filmentwicklung: Filmrolle und Chemie in die Dose, auf kleinen Gummirädern drehte sich die Dose erst in die eine, dann in die andere Richtung.

So techniknah er auch war, lebensfremd war Winfried Müller nie. An den Wochenenden fuhren sie in den Garten, damit die Kinder auch etwas Natur abbekamen. Abends kamen dann die vielen Freunde vorbei; bei den Müllers waren sie stets willkommen.

Irgendwann in den 80ern begann Winfried Müller, technische Gerätschaften zusammenzutragen, die im Werk nicht mehr gebraucht wurden. Er transportierte sie in den großen Turm des berühmten Werksgebäudes, ordnete sie thematisch und zeitlich, schrieb Erklärungen dazu. Er sammelte auch Akten, Fotos, Zeitschriften. Kollegen halfen ihm, und im Jahr 1990, als die Mauer schon gefallen war, eröffneten sie das Betriebsmuseum „Technik im Turm“.

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Dann geschah, was überall im Osten geschah, Privatisierung, der Druck des Weltmarktes, Entlassungen. Winfried Müller hatte Glück, er erhielt eine ABM-Stelle und kümmerte sich weiter um sein Museum. Außerdem restaurierte er Radios für das Museum für Verkehr und Technik in Kreuzberg. Die Wende hat er als Bruch empfunden, aber nie als Niederlage. Nutzlos, verloren, wie etliche seiner ehemaligen Kollegen, fühlte er sich nie. Dafür hatte er viel zu viel zu tun.

Das Werk wurde von Samsung übernommen. Winfried Müller schaffte es gerade noch, all die Gerätschaften und das Archiv sicher in Kisten zu verstauen. Dann ging auch er in Rente. 15 Jahre später, Samsung hatte verkauft, sollte das ganze Gerümpel endgültig verschrottet werden. Doch Glück, Zufall und Winfried Müllers Begeisterung kamen zusammen. Er und viele Mitstreiter überführten die Dinge in die Hallen des ehemaligen Transformatorenwerkes. Jeden Tag ordneten sie, sortierten, bauten auf, bis der „Industriesalon Schöneweide“ fertig war. Winfried Müller gab jetzt Führungen und traf sich jede Woche mit seinen alten Kollegen, um Röhren und Radios zu tauschen, zu reparieren und fachzusimpeln.

Mit seiner Frau fuhr er in die Welt, sie besuchten Oper, Theater, Restaurants. Das Größte aber war es, wenn die ganze Familie zusammenkam, die Kinder, die Enkelkinder, wenn er am Kopf des Tisches saß und alle anschaute und ihnen zuhörte. Konnte das Leben schöner sein?

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