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Berlin: Der Ort, von dem Spione träumten

Der Eiserne Vorhang hatte diverse Schlupflöcher und Tore. Eines der berühmtesten war die Glienicker Brücke. Drei Mal wurden dort West- gegen Ostagenten ausgetauscht. Doch sie war auch Konzertort der Schöneberger Sängerknaben – und zur Adventszeit Bühne für ein „Turnier der Tannen“

Tannen sind an sich unpolitische Gewächse, doch als die Mauer noch stand, musste selbst harmloses Nadelgehölz als Waffe im Kalten Krieg herhalten. So soll es eine Zeit lang in den Adventswochen Berliner Brauch in West wie Ost gewesen sein, die andere Seite an ausgewählten Orten durch das Aufstellen ausgesucht schöner Weihnachtsbäume herauszufordern und zu übertrumpfen. Für eine gesperrte Straße 1958 am Ostrand von Hermsdorf ist das auch fotografisch dokumentiert, ebenso für die Glienicker Brücke 1964. Das „Turnier der Tannen“ ist also nicht nur Legende.

Verbürgt ist auch ein anderer, schon vor dem Mauerbau begonnener Adventsbrauch an der Glienicker Brücke: der Auftritt der Schöneberger Sängerknaben. Ihr Leiter und Dirigent Gerhard Hellwig, der den Chor 1947 gegründet hatte, erinnert sich gern an die weihnachtlichen Konzerte an der Brücke oder auch am Brandenburger Tor, Auftritte von hohem „Symbolcharakter“, eine gesungene „Demonstration, dass wir zusammengehören“. Dies war durchaus Konzept: „Wir waren ein politischer Chor und wollen heute noch so verstanden werden. Aber nicht ein parteipolitischer Chor, sondern ein Berlin-politischer Chor“, so wurde Hellwig etwa in einer Ausstellung im Rathaus Schöneberg zum 50-jährigen Bestehen des Chores zitiert. Dass im Osten jahrzehntelang nur vom „Westberliner Frontstadt-Chor“ die Rede war, störte ihn nicht, im Gegenteil.

Gesungen wurden daher gern Lieder wie „Unsere Stadt hört doch nicht am Brandenburger Tor auf“ von Curth Flatow, und wenngleich Hellwig keinerlei Zwischenfälle während der Auftritte an der Brücke, diesem neuralgischen Symbolort des Kalten Krieges, nennen kann – die Vorbereitung erforderte lange Absprachen zwischen dem hilfsbereiten Schöneberger Bezirksamt und den Amerikanern.

Deren Vorsicht selbst bei Auftritten eines Knabenchors war verständlich, bedeutete doch die Brücke ein Tor im Eisernen Vorhang und war daher von weltpolitischer Bedeutung. Das reibungslose Passieren dieses Grenzübergangs durch die Angehörigen der Militärmissionen war geradezu ein Gradmesser für den Stand der Beziehungen zwischen beiden Machtblöcken. Und vor allem hatte sich die Brücke als Ort bewährt, an dem sich Pannen des Kalten Krieges korrigieren ließen – durch den Austausch von Spionen.

Nicht als Auftrittsort für kurzbehoste Jungen ist also die Glienicker Brücke im kollektiven Gedächtnis verankert, sondern als Bühne für großes Polittheater – ein fast mythischer, auch in Kinofilmen glorifizierter Ort, an dem die in West wie Ost geschnappten Agenten ihren Auftraggebern halbwegs unversehrt zurückerstattet wurden. Allerdings geschah dies nur drei Mal. Das erste historische Datum war der 10. Februar 1962, als Francis Gary Powers, Pilot des bei Swerdlowsk abgeschossenen Spionageflugzeugs U2, gegen den Sowjetspion Rudolf Abel ausgetauscht wurde. Am 11. Juni 1985 wechselten 23 West- gegen vier Ostspione die Brückenseiten, am 11. Februar 1986 schließlich drei West- gegen fünf Ostagenten. Dazu wurde der Sowjetdissident Anatolij Schtscharanski freigelassen, nach längerem Fingerhakeln über die Prozedur, da die Sowjets ihn zunächst wie einen Spion tauschen wollten.

Danach spielte die Brücke noch zweimal bei Fluchten eine Rolle: Am 15. Juli 1986 war ein Magdeburger vom Flugplatz Schönhagen aus mit einer Sportmaschine geflüchtet und auf dem britischen Flugplatz Gatow gelandet, wenige Wochen später wurde die Maschine über die Brücke zurücktransportiert. Und in der Nacht zum 10. März 1988 durchbrachen drei Männer mit einem Lastwagen die Grenze nach Westen. Weil sie – allerdings leere – Gasflaschen geladen hatten, wagten die Posten nicht zu schießen.

Nach dem Mauerfall sind die Schöneberger Sängerknaben noch einmal an der Brücke aufgetreten. In den Musiksendungen des DDR-Radios war Gerhard Hellwig besonders das Polizeiorchester Potsdam aufgefallen, nach der Wende versuchte er dessen Leiter Peter Brünsing anzurufen, und nach drei Tagen, über den Umweg des Potsdamer Polizeipräsidiums, hatte er ihn tatsächlich am Apparat. Er habe Brünsings Orchester so oft gehört, „lass uns was zusammen machen“. Der Potsdamer war einverstanden, schnell einigte man sich auf ein Stück, und bald standen Orchester und Chor gemeinsam im Aufnahmestudio und auch an der Brücke. An der gewohnten Stelle am Westufer spielten und sangen sie „Märkische Heide, märkischer Sand“.

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