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Geschichtsträchtig. Der Pergamonaltar im ausnahmsweise menschenleeren Saal. Mit 1,26 Millionen Besuchern 2013 ist das Pergamonmuseum das beliebteste Berliner Ausstellungshaus.

© bpk / Antikensammlung, SMB / Hans Christian Krass

Der Pergamonaltar schließt: Pergamon-Museum: Der Gigant macht Pause

Bis zum 28. September ist der Pergamonaltar auf der Berliner Museumsinsel noch zu sehen, dann wird renoviert – fünf Jahre lang. Wir erinnern an die Geschichte des Tempels, der längst selbst ein Mythos ist.

Der Altar ist großes Kino. Größeres gibt es nicht. Wer nach Berlin kommt, will ihn sehen. Aber: Nur noch kommende Woche kämpfen die Götter mit den Giganten. Der Preis ist die Herrschaft über den Planeten, den Himmel, die Unterwelt. Es wird – bis zur Teilschließung des Pergamonmuseums ab 29. September für fünf Jahre, der Bau schreit nach Sanierung – ein Krieg der Welten ausgetragen. Die Grundfrage in dieser alles entscheidenden Schlacht ist, wer künftig über Schöpfungsmythen und Religion bestimmt und die Definitionsgewalt darüber besitzt, wie sich die Vergangenheit zur Zukunft verhält. Und wem die Gegenwart gehört, wenn sagenhafte Superhelden aufeinander eindreschen.

Denn es gibt noch einen zweiten Kampf, es sind noch andere Kriege mit dem Fries verwickelt – jene, die das Königreich Pergamon führte gegen zahlreiche Invasoren, Spartaner, Bithynier, Kappadokier, Makedonen, die Diadochen. Auch sie sind nach dem Willen von Eumenes II., des Erbauers des Pergamonaltars, in Stein hier gemeißelt und geschnitten, zum Ruhm des Stifters. Er regierte von 197 bis 159 vor Christus in der Stadt, die heute Bergama heißt und in der Türkei liegt.

Die Geschichte ist tief verwurzelt in der europäischen Zivilisation, die von Anfang an Waffen trug und so blutig war wie die Erzählungen ab origine bei den Azteken oder das indische Epos des Ramayana: Zeus & Co. werden die Giganten besiegen, was nur mit Hilfe des Herakles gelingt, den Zeus mit einer Sterblichen, Alkmene, gezeugt hat. Das Zwitterwesen ist die Wunderwaffe der Götter, sie errichten nun die olympische Ordnung, wodurch sich das künftige Geschehen – auch viele Göttergeschichten, bis hin nach Troja – vom Universum auf die Erde verlagert. So wie Zeus immer wieder sterbliche Frauen heimsucht, schaffen die Menschen sich die Götterbilder und Göttergeschichten.

Der französische Gelehrte Jean-Pierre Vernant erklärt den Ablauf so: „Zeus ist beim Ordnen des Universums sorgfältig darauf bedacht, die Nacht, die Finsternis und den Konflikt aus der Welt zu räumen. Er schafft eine Herrschaft, in der die Götter zwar streiten, ihre Streitereien aber nicht in einem offenen Konflikt enden können. Er hat den Krieg aus dem göttlichen Territorium verjagt und den Menschen geschickt. Alle bösen Kräfte, die Zeus aus der olympischen Welt verstieß, werden zum täglichen Brot des Menschen.“

Die Figuren waren einst bunt bemalt

Diese verdammte Bescherung sehen wir im Pergamonfries. Und dabei dürfen wir nicht vergessen: Die marmornen Götter waren nicht weiß. Sie waren farbig bemalt, nicht weniger als die Sixtinische Kapelle.

„Krieg und Frieden“ ist der Fries, Tolstoi in Stein. Der Dichter Gerhard Falkner schreibt 2012 in seinen „Pergamon Poems“: „Nie sind sich Gott und Mensch so nah gekommen“. Und: „Nichts drückt Götter besser aus als Marmor / seinetwegen wurde die Schönheit erfunden / um das Bild, das Ideal mit seiner Stille abzurunden.“ Schließlich: „Das Beispiel, das die Griechen gaben: / man wird es nicht mehr los.“ Da klingen mit der Ironie des Verlusts Nietzsche, Goethe, Winckelmann an – Jahrhunderte deutscher, europäischer Griechenbeschau.

Anders als Paris, London oder Washington hat Berlin nur wenige dem griechischen Muster angelehnte Gebäude. Berlin hat das Alte Museum von Schinkel, die Alte Nationalgalerie und vor allem den Pergamonaltar mit seinen Friesen. Er ist selbst zum Mythos geworden. An einem Altar wird gebetet und geopfert, Schlange gestanden, kontempliert und fotografiert. Doch in den nächsten Jahren, es ist kaum vorstellbar, fallen hier die kultischen Handlungen aus, wird der Altar selbst geopfert, auf Zeit, er verschwindet auf einer Baustelle – so wie Agamemnons Tochter Iphigenie plötzlich vom Altar verschwand, als ihr Vater und Heerführer sie opfern wollte, weil er sich davon für die griechische Kriegsflotte günstige Winde gen Troja erhoffte. Hier aber können wir nur auf gut gelaunte Götter des Handwerks hoffen.

Hinterher! Auf dem Relief des südlichen Treppenzwickels verfolgt eine Gruppe Meeresgötter die vorstürmenden Giganten.
Hinterher! Auf dem Relief des südlichen Treppenzwickels verfolgt eine Gruppe Meeresgötter die vorstürmenden Giganten.

© bpk / Antikensammlung, SMB / Johannes Laurentius

„Nichts drückt Götter besser aus als Marmor“. Mit dem Namen der Stadt Pergamon verbindet sich aber noch ein anderes Material, mit dem Menschen die Götter und sich selbst porträtieren und verewigen: Pergament.

Im großen Bücherkrieg zwischen Alexandria und Pergamon hatte der Herrscher von Alexandria die Papyrusausfuhr gestoppt, um die aufstrebende Bibliothek von Pergamon vom Nachschub neuer Bücher abzuschneiden. Die Bibliothek von Alexandria, damals die größte der Welt, duldete keine Konkurrenz. Ohne Papyrus aus Ägypten keine Schriftrollen. Ein Hirte soll sehr reich geworden sein, als er dem König von Pergamon mit der Idee kam, die ohnehin geschmeidigeren und haltbareren Tierhäute als Schreibmaterial zu benutzen. Dieser pergamenische König war Eumenes II., der Auftraggeber des Altars.

Ein Schlachtfeld der Götter - und der Archäologen

Manch ein römischer Schriftsteller feierte den Pergamonaltar als Weltwunder. Vielen Zeitgenossen aber war die Darstellung der Kämpfe rätselhaft und überladen, wie Barbara Demandt in ihrem Buch „Die Wohltaten der Götter. König Eumenes II. und die Figuren am großen Fries des Pergamonaltars“ (2013) darlegt. Im Neuen Testament wird das gewaltige Marmor-Kino als Teufelswerk gegeißelt. In der Offenbarung des Johannes heißt es: „Und dem Engel der Gemeinde zu Pergamus schreibe: Das sagt, der da hat das scharfe, zweischneidige Schwert. Ich weiß, was du tust und wo du wohnst, da des Satans Stuhl ist; und hältst an meinem Namen und hast meinen Glauben nicht verleugnet auch in den Tagen, in welchen Antipas, mein treuer Zeuge, bei euch getötet ist, da der Satan wohnt. Aber ich habe ein Kleines wider dich, dass du daselbst hast, die an der Lehre Bileams halten, welcher lehrte den Balak ein Ärgernis aufrichten vor den Kindern Israel, zu essen Götzenopfer und Hurerei zu treiben. (...) Tue Buße; wo aber nicht, so werde ich dir bald kommen und mit ihnen kriegen durch das Schwert meines Mundes.“

In der Vision der Apokalypse, die dieser Johannes um das Jahr 100 nach Christus auf der Insel Patmos empfangen haben soll, kündigt sich eine neue Gigantomachie an. Hier liegen die Dinge, schon geografisch, nicht weit auseinander: Gott und Zerstörung, Religion und Krieg wirken wie Synonyme. Der Pergamonfries präsentiert sich als gigantisches Fragment, als doppeltes Schlachtfeld. Er zeigt bis ins Detail Kampfhandlungen, miteinander ringende Körper, Getroffene, Darniederliegende, Stürzende, Sterbende. Da sind angespannte Muskeln, Waffen, Helme, Gesichter – kaputt, zerschlagen in diesem Actiongemälde aus Marmor auf 113 Metern Länge und zweieinhalb Metern Höhe. Und wie das alles eines Tages wieder aus der Erde geholt und zusammengesetzt wurde von Archäologen, das zeigt die massive Zerstörung, die die Zeit angerichtet hatte und die späteren Bewohner Pergamons, für die antike Kunst und Skulptur ein Steinbruch war.

Das Grau der Suhrkamp-Bände und der Marmor des Altars

Großes Drama. Diese Szene vom Nordfries zeigt Zeus' Tochter Athene, die pergamenische Stadtgöttin. Sie kämpft gegen den Giganten Alkyoneus, zugleich steigt Gaia, die Mutter der Giganten, aus dem Boden auf, um ihrem Sohn zu helfen.
Großes Drama. Diese Szene vom Nordfries zeigt Zeus' Tochter Athene, die pergamenische Stadtgöttin. Sie kämpft gegen den Giganten Alkyoneus, zugleich steigt Gaia, die Mutter der Giganten, aus dem Boden auf, um ihrem Sohn zu helfen.

© bpk / Antikensammlung SMB / Johannes Laurentius

„Doch wie viel Gigabyte birgt dieser Stein, dass / selbst die Klinge, die nicht mehr vorhanden / mit einem Schimmer von Unsterblichkeit / die Ewigkeit der Götter widerspiegelt“, schwärmt Gerhard Falkner. Man muss an Rilke denken, an sein Gedicht „Archäischer Torso Apolls“, das er schrieb, als er 1908 in Paris, vermutlich im Louvre, von einer griechischen Skulptur in Bann geschlagen wurde: „Denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern.“

So sah es Peter Weiss in seiner „Ästhetik des Widerstands“ auch unbedingt. Das riesenhafte Romanwerk, drei Bände, 1000 Seiten, beendet 1981, kreist um Stoff und Mythos des Pergamonaltars.

Weiss nähert sich in seinem Kampf um die Kunstgeschichte und Arbeiterbewegung auch vielen anderen Werken, Delacroix’ Barrikadengemälde, Picassos „Guernica“, aber der Pergamonaltar ist sein Alpha und Omega. Karl Marx interpretierte, leicht verkürzt gesagt, historische Abläufe auf ein kommunistisches Happy End hin. Peter Weiss sucht in der Kunst die Spuren und Hintergründe des ewigen Kampfes der Armen und Unterdrückten, der Sklaven und Arbeiter. Sie sind, wiederum stark vereinfacht, die Giganten, die niedergemacht werden, wieder und wieder.

Aus ästhetischer Betrachtung ziehen die Hauptcharaktere bei Weiss ihre Kraft zum Widerstand gegen die Nazi-Barbarei. Der Roman umfasst die Zeit von 1936 bis 1945. Er hebt an mit den Sätzen: „Rings um uns hoben sich die Leiber aus dem Stein ... Ein riesiges Ringen, auftauchend aus der grauen Wand, sich erinnernd an seine Vollendung, zurücksinkend zur Formlosigkeit.“

Das erste Museum für den Altar stand nur acht Jahre

In den frühen 80er Jahren gab es in West-Berlin Peter-Weiss-Lesegruppen, die „Ästhetik“ ist knallharte Lektüre, nicht leicht verständlich, unendlich beziehungsreich, wie der Pergamonaltar, mit dessen Besuch das große Buch beginnt. 1975 erschien bei Suhrkamp der erste Band, in der DDR kam das gesamte Werk 1983 heraus. Das Grau der Suhrkamp-Bände, das strenge Schriftbild korrespondierten mit dem Marmor des Altars, dessen Grundstruktur von Nazi-Architekten beim Reichsparteitagsgelände in Nürnberg ins Barbarische vergrößert und verzerrt wurde.

Kaum hatten sie wieder das Licht der Sonne erblickt, waren der Bau und seine Kunst eine Legende – anfassbar und bereit zum Transport ins Wilhelminische Reich, das nach Antiken gierte. Am 12. September 1878 schrieb der Bauingenieur Carl Humann aus dem Osmanischen Reich einen Brief an die Königlichen Museen in Berlin. „Wir haben nicht ein Dutzend Reliefs, sondern eine ganze Kunstepoche, die begraben und vergessen war, aufgefunden.“ Es war eine Sensation, eine Initialzündung für spätere archäologische Kampagnen im alten Babylonien und Assyrien. Heinrich Schliemann war mit seinen Grabungen in Troja und Mykene vorausgegangen, aber Pergamon versetzte die Museumsleute in Berlin in einen Rausch. Bei der großen Berliner Kunstausstellung 1886 marschierte ein „Pergamenischer Festzug“ durch die Stadt. 1500 wilhelminische Bürger hatten sich, mit Schild und Schwert und Helm, in antike Fantasiekostüme geworfen. Abgüsse des Gigantenkampfes wanderten in viele deutsche Städte und Museen.

Es begann eine Leidensgeschichte, die bis heute anhält. Die ersten Teile des Frieses wurden bereits Anfang der 1880er Jahre im Alten Museum präsentiert. 1901 eröffnete das neu errichtete Pergamonmuseum, das acht Jahre später wieder abgerissen wurde. Der Bau war zu klein und zu hastig ausgeführt. Erst 1930 feierten die Berliner die Einweihung des neuen Pergamonmuseums auf der Museumsinsel; der Altar war über zwanzig Jahre der Öffentlichkeit entzogen.

Hat man je genau genug hingeschaut?

Der Pergamonaltar spiegelt die Geschichte des 20. Jahrhunderts. Mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs schließen die Museen. 1941 werden die Friesplatten in einen Bunker am Zoo verbracht; das ganze Drama ist im umfangreichen Katalog zur großen Pergamon-Ausstellung der Staatlichen Museen von 2011 – mit dem Panorama von Yadegar Asisi – dokumentiert. Nach einer Zwischenlagerung in einem Bunker in Friedrichshain, bei der es zu erheblichen Beschädigungen kam, transportiert die Rote Armee den Altar in die Sowjetunion ab, nach Leningrad. 1958 ist der Fries wieder in Berlin, in der Hauptstadt der DDR. Nach der Wiedervereinigung macht sich die Preußenstiftung an die Restaurierung des Frieses, und nun ist sein Gehäuse dran, das Pergamonmuseum.

Keine Baustelle ist ewig, doch der Pergamonaltar kann den alten Spruch des Dada-Künstlers Kurt Schwitters mit Leben und Geschichte füllen: „Ewig währt am längsten“. Nun schon über 130 Jahre! So lange suchen Götter und Giganten, im Kampf versteinert, nach einer dauerhaften Bleibe. Wenn sie jetzt für fünf Jahre (mindestens) verschwinden, so löst sich doch der Knoten nicht. Sie bleiben verschlungen und verdreht in ihrem Krieg, der niemals an ein Ende kommt. Der harte Stein mildert den Aufprall der Fallenden. Die Giganten und die Feinde des Eumenes unterliegen, aber der Fries hält ihre letzten Momente fest, das Aufbäumen, den Niedergang, das Noch-Nicht-Endgültige. Zwar ist der Ausgang der Schlacht bekannt, geht der Kampf der Klassen (Peter Weiss) bis auf Weiteres verloren, aber der Marmor hält zuvor inne. Wie bei der berühmten Skulptur des „Sterbenden Galliers“ aus Pergamon, in dessen Oberkörper eine tiefe Wunde klafft. Er ist noch am Leben, in seinem Blick liegt Reflexion. Er sieht den Abgrund, der Betrachter nimmt seine Eleganz wahr, seine Würde.

Der Fries ist im Pergamonmuseum ja abgewickelt. Er läuft an den Wänden, nicht mehr wie ursprünglich am Bauwerk entlang. „Das, was beim langsamen Umschreiten erfasst werden sollte, legte sich nun seinerseits um den Beschauer“, wie Peter Weiss es plastisch beschreibt. Dabei beschleicht einen ein ungemütlicher Gedanke: Hat man je genau genug hingeschaut, das Geschehen erfasst, wenigstens in Teilen begriffen? Das ist fast unmöglich. Und zu spät. Der Fries verschwindet jetzt, erholt sich von den mal kundigen und neugierigen, mal leeren Blicken der Reisegruppen und Schulklassen. Er hat ja auch wirklich viel mitgemacht. Im September 2001 veranstaltete der Berliner Senat im Saal des Pergamonaltars ein Dinner für IOC-Funktionäre. Das gehörte damals zur Olympia-Bewerbung. Der Ausgang ist bekannt: Die Berliner Giganten verloren das Spiel. Die olympischen Götter zogen weiter.

Dieser Text ist in unserer Samstagsbeilage Mehr Berlin erschienen.

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