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Berlin: "Der Potsdamer Platz von unten": Schreckensruf im Geisterbahnhof

Dieser Tunnel ist so grau und staubig wie Elefantenhaut. Ein Schlund aus Beton, breit genug für zwei U-Bahnzüge, die nebeneinander darin verschwinden könnten - doch hier gibt es noch keine Gleise sondern nur ein paar Türsteher, die jedem Gast einen Kugelschreiber in die Hand drücken.

Dieser Tunnel ist so grau und staubig wie Elefantenhaut. Ein Schlund aus Beton, breit genug für zwei U-Bahnzüge, die nebeneinander darin verschwinden könnten - doch hier gibt es noch keine Gleise sondern nur ein paar Türsteher, die jedem Gast einen Kugelschreiber in die Hand drücken. "Bitte", sagt eine Frau, "unterschreiben Sie, dass Sie gut auf sich Acht geben. Sie können hier stolpern und runterfallen". Die Frau steht im Zwielicht vor einer Stahltür - dahinter beginnt der blinde Bahnhof und U-Bahntunnel der Geisterlinie U3 unter dem Potsdamer Platz. Aus der Tiefe erklingen Schreckensrufe. Jemand hat die Warnungen nicht ernst genommen und sich den Knöchel verknackst. Willkommen im Untergrund des neuen Berlin.

Gut hundert Gäste drängelten sich am Sonntag durch die Tür in die Finsternis, sprangen ins Gleisbett hinab und ließen nichts aus, was BVG-Aufpasser aus der Fassung bringt. Doch keine Sorge, an diesem Bahnsteig muss man mit Sicherheit noch zwanzig Jahre lang auf den ersten Zug warten. Zeit genug also für den Ch. Links-Verlag, der hier gestern sein jüngstes Buch vorstellte. Titel: "Der Potsdamer Platz von unten. Eine Zeitreise durch dunkle Welten". Geschrieben von Berlins Unterwelt-Experten Nummer 1, Dietmar Arnold.

Schiebermütze, Parka, olivgrüne Trecking-Hose - dieser Autor würde auch zu Empfängen im Schloss Bellevue in seiner Arbeits-Kleidung erscheinen. Jetzt steht er im Tunnel und projiziert Lichtbilder zur Geschichte des Untergrundes auf seine Ideal-Kulisse: Waschbeton. Aber dieser Ort ist auch ein Konzertsaal vom Feinsten. Deshalb treten danach zwei Frauen und ein Mann aus dem Dunkeln hervor, das Trio "TransAlpin". Sie singen so glockenrein wie gregorianische Mönche - und jeder Ton schwebt sekundenlang in den Tiefen der Röhre.

Das hätten die Bauarbeiter wohl kaum erwartet, als sie im Untergrund des Kollhoff-Hochhauses am Potsdamer Platz diesen modernsten aller Geisterbahnhöfe betonierten. Er liegt sozusagen in der zweiten Etage der Unterwelt über dem gleichfalls noch unfertigen Regionalbahnhof und ist einer Phantomlinie zugedacht - der U3, die einmal die City-Ost mit der City-West verbinden soll. Wann sie auf Strecke geht, weiß niemand. Man hat den Bahnhof samt Röhre nur vorsorglich für rund 300 Millionen Mark gebaut. Später wäre eine solche Buddelei hier kaum mehr möglich gewesen.

Dietmar Arnold beschreibt das im letzten Kapitel seines ungewöhnlichen Führers durch den Bauch der Innenstadt zwischen Brandenburger Tor, Sony-Center und debis-Hochhaus. Ein Gebiet, in dessen Untergrund sich die Historie der Stadt in nahezu allen Kapiteln verbirgt. Also nimmt Arnold seine Leser auch mit zu den Nazi-Bunkern der Reichskanzlei, zu Spionage- und Fluchttunneln aus den Tagen des Kalten Krieges und schließlich zu den Katakomben der einstigen Großbaustelle "Potsdamer Platz".

Wir erinnern uns. Hier lag das größte Niemandsland zwischen Ost und West. Dann hoben Bagger eine Seenlandschaft aus - die Baugruben für das debis-Projekt. "Mehr als 50 Prozent der gesamten Bausumme für den Potsdamer Platz wurden in die Erde gebuddelt", sagt Arnold - und braucht für einen solchen Auftritt kein Redemanuskript. Schließlich hat er den "Verein Berliner Unterwelten" gegründet und die Eingeweide Berlins seit vielen Jahren erforscht. Auch in die Debatte um die Zukunft der verbliebenen Bunkeranlagen im Bereich des Holocaust-Mahnmals greift er ein, denn er will die zum Abbruch vorgesehenen Höhlen der Nazi-Größen als "Denk"mäler erhalten. Sein Argument: "Wir erinnern symbolisch an die Nazi-Zeit, beseitigen aber zugleich deren Spuren. Ist das nicht widersinnig?"

Dann führt er seine Gäste ein Stück in den Schlund der U 3 hinein. Bis zur Philharmonie könnte man von hier aus unterirdisch laufen. Würde gar alle blinden U-Bahnröhren Berlins aneinandergefügt, so ergäben sie laut Arnold eine stattliche Strecke. "Etwa so weit wie vom Alex zur Gedächtniskirche".

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