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Berlin: Der Richter ist kein Therapeut

Der Eschede-Prozess wird eingestellt – weil der Rechtsstaat seine Grenzen kennt

Die betroffenen Familien können es nicht fassen. Und mit ihnen viele Bürger. 101 Menschen sind tot, 105 zum Teil schwer verletzt. Aber niemand soll Schuld daran sein? Das will unser Gefühl nicht hinnehmen. Die Ursache des Zugunglücks von Eschede am 3. Juni 1998, des schwersten der deutschen Geschichte, hat man doch klar erkannt: ein defekter Radreifen. Dafür muss es Verantwortliche geben – und eine Strafe, die in einem angemessenen Verhältnis zum unermesslichen Leid und Schaden steht. So will es unser Gefühl, auch unser Gerechtigkeitsgefühl. Und mag nicht akzeptieren, dass der Strafprozess eingestellt wird.

Die Strafjustiz hat einen anderen Gerechtigkeitsbegriff. Niemand darf bestraft werden, dem nicht eine individuelle Schuld nachgewiesen werden kann. Mehr als ein Dutzend Gutachter waren am Werk, am Ende ohne Ergebnis. Mehr als vier Jahre sammelte die Staatsanwaltschaft Material für ihre Anklage, im vergangenen Sommer begann vor dem Landgericht Lüneburg der Strafprozess gegen zwei Ingenieure der Bahn und einen Mitarbeiter des Radreifenherstellers Thyssen. Aber die Justiz konnte die Schuld am Bruch des Radreifens niemandem zuordnen. Deshalb endet das Verfahren ohne Verurteilung, ohne Strafe.

Das enttäuscht die Betroffenen. Dabei war es eigentlich erstaunlich, dass es überhaupt zum Strafprozess kam. Kann man die schwere Last der Verantwortung für dieses Unglück, für den Tod und die bleibende Verletzung so vieler Menschen auf nur drei Paar Schultern abladen? Und das bei so dünner Beweislage? Die zivilrechtlichen Verfahren um Schadensersatz laufen ja ohnehin.

Unbefriedigend ist dieser Ausgang nicht aus juristischen, sondern aus psychologischen Gründen. Ähnlich wie es einen Kranken beruhigt, den Namen seiner Krankheit zu kennen, weil sie ihm dann nicht mehr so bedrohlich erscheint, so beruhigt es die Gesellschaft, einen Schuldigen für ein solches Unglück zu benennen. Deshalb hat die Staatsanwaltschaft noch am Tage des Unglücks Ermittlungen aufgenommen. Und deshalb bewerten manche das Endes des Verfahrens als „bitteren Tag für den Rechtsstaat“.

Aber ist es nicht umgekehrt? Wie stünde es um einen Rechtsstaat, der drei Techniker bestrafte, um den Angehörigen der Opfer Genugtuung zu verschaffen, selbst wenn er den Männern keine individuelle Schuld nachweisen kann? Wenn sie nicht die Schuldigen sind, können sie auch nicht bestraft werden. Schuld ist etwas ganz Individuelles. Daher kann ein Strafprozess im Nichts enden. Damit müssen wir leben. Gestraft sind die Angeklagten ohnehin, auch ohne Verurteilung.

Fatina Keilani

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