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Berlin: Der Traum vom Broadway

Schauspiel, Revue, Konzert und Kabarett: Zwischen Bahnhof Friedrichstraße und Tacheles bietet das Theaterviertel fast alles – nur das Musical fehlt

Da tritt einer aus den großzügigen, funkelnd glatt polierten Hallen des Bahnhofs Friedrichstraße – und muss fast zurückprallen vor dem, was er sieht. Schäbige graue Nachkriegsbaracken sind an die Nordflanke des Bahnhofs geklemmt, mit einem Döner-, einem Foto- und einem Blumenladen und den blinden Fenstern einer vor langem geschlossenen „Kleinen Konditorei“. Daneben ein Baugerüst; eine Hofdurchfahrt, die „wegen Einsturzgefahr“ gesperrt ist; Schaukästen mit Messingrahmen – leer. Im Hof das „Metropol-Theater“: geschlossen. Dann kommt eine karstige Brache, hinter der Spree ein Plattenbau und eine Großbaustelle, lang zieht sich die Friedrichstraße, und erst ganz hinten, kurz vorm Tacheles, finden die Augen am Turmaufsatz eines Bürogebäudes Halt.

Zwar braucht Berlin nicht überall ein Ansichtskarten-Bild zu geben. Doch hier gibt der Kontrast den Ausschlag: Denn die Friedrichstraße nach Süden hinab locken wieder funkelnd glatt polierte Fassaden, sieht man Restaurants und Geschäfte, dort wissen auch jüngst erst eingetroffene Touristen die „Linden“, das Leben, die Stadt. Dorthin strömen die Menschen, dorthin wird er sich wenden.

Es ist deshalb nicht ganz egal, was mit dem „Metropol“ wird: Es könnte Auftakt und Eingang zur nördlichen Friedrichstraße sein. Auf einem Reklameplakat vor dem maroden Haus räkelt sich heute riesengroß und leicht bekleidet Heidi Klum – doch geht es nach Anno August Jagdfeld, könnte hier einmal „Cabaret“ stehen, werbend für Aufführungen des Musicals im renovierten, neu eröffneten Theater. Der Investor will es wie berichtet der Stadt für einen Euro abkaufen, lockt mit der Idee eines „Berliner Broadway“ und malt den „Mythos Friedrichstraße“, das pulsierende Nachtleben der 20er Jahre, ein weiteres Mal aus – kein Zufall, dass er gerade „Cabaret“ spielen will. Allerdings trickst Jagdfeld dabei ein wenig: Die Vergnügungsstätten der Friedrichstraße fanden sich in den 20er Jahren eher südlich des Bahnhofs, bis runter zur Leipziger und darüber hinaus – in der Gegenwart siedelt Kultur und abendliche Unterhaltung fast ausschließlich im nördlichen Bereich der Straße. Hier aber sind die Grundlagen für einen „Broadway“, ein Theaterviertel so idealtypisch wie in New York, gewissermaßen schon gelegt: Bis zum Tacheles liegen ein halbes Dutzend von Bühnen fast unmittelbar an der Straße, mit nahezu jeder Art von Bühnendarbietung im Angebot und zusammen fast anderthalb Millionen Besucher im Jahr.

So spielt gleich am Bahnhof noch immer die „Distel“, ein Kabarett in einem Seitenflügel des Metropol. Gegenüber der „Tränenpalast“: ein Ort für Konzerte, Lesungen, Theater, Tanzvergnügen. Und was den Mythos betrifft: Kaum weniger prägend für das Bild des modernen Berlins war Mies van der Rohes Entwurf für den gläsernen Wolkenkratzer, der genau hier hätte entstehen sollen.

Dann, am anderen Spreeufer: das Berliner Ensemble. Bert Brechts Theater, in dessen Kassenraum eine junge Frau vergeblich versucht, Karten für, ja: ein Musical zu bekommen, das rasend erfolgreiche „Leonce und Lena“ von Wilson/Grönemeyer. Direkt neben dem BE, wo einst der alte Friedrichstadtpalast stand, ist ein Bauzaun mit Werbepostern beklebt; dies ist ein allerdings sichtbarer Unterschied zum New Yorker Broadway: geworben wird hier nicht mit Leuchtreklamen, sondern klassisch mit Plakaten. Zum Deutschen Theater in der Schumannstraße: den Schiffbauerdamm entlang, wo zwischen „Ganymed“ und „Ständiger Vertretung“ sich die Restaurants reihen, und die Albrechtstraße hinauf, wo das mittlerweile genauso ist. Die gastronomische Infrastruktur also ist da; an der Ecke Reinhardtstraße gibt’s auch bereits den klassischen New Yorker Imbiss: Bagels. Die Straße hinab sieht man schon die Glasmosaike des Friedrichstadtpalastes in der Sonne funkeln, an dessen Kasse man später einen Schwaben 25 Tickets für die Revue kaufen hört. Im Keller hat sich vor ein paar Monaten der „Quatsch Comedy Club“ angesiedelt, nachdem er in Hamburg lange nach einem Raum gesucht hatte, und um die Ecke in der Johannisstraße ist die „Kalkscheune“, ein Musik-Club, inzwischen schon eingesessen.

Schließlich das „Tacheles“. Mit Kino, Konzert- oder Theaterbühne, Ateliers. Und Ort eines weiteren Jagdfeld-Projekts: Das Quartier am Tacheles soll um das Kunsthaus herum entstehen, ein Wohn- und Geschäftsviertel für 400 Millionen Euro. Eines der Gebäude soll „Flat Iron“ heißen. Wie sein Vorbild in New York – am echten Broadway.

Holger Wild

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