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Berlin: Der unerhörte Einspruch

Im November 1959 soll der Abriss des Potsdamer Schlosses beginnen. Junge Architekten begehren auf Sie beschweren sich beim DDR-Präsidenten. Die Staatsmacht lässt Uniformierte aufmarschieren.

Potsdam - Es war ein letzter Versuch, zu retten, was vom zerstörten Potsdamer Stadtschloss noch zu retten war. Am 6. November 1959, einen Tag bevor die erste Sprengung der Ruine erfolgen sollte, protestieren 15 Architekten und Ingenieure mit einem Telegramm an DDR-Staatschef Wilhelm Pieck gegen den Kulturfrevel. Ein unerhörter Vorgang. Auch an die oberste Verwaltung und die DDR-Bauakademie gehen die Depeschen. Aber nicht nur an die: Gleichlautende Telegramme erreichen die Akademie der Wissenschaften in Moskau, die Akademie der Künste in Paris und den früheren französischen Außenminister (und späteren Ministerpräsidenten) Georges Bidault: „Wir 15 Architekten und Ingenieure der Brigade C (...) protestieren gegen diese überstürzte Maßnahme“, ist da zu lesen. Ihnen sei keine Planung bekannt, die den Abriss des Schlosses rechtfertige. Ein baukünstlerisches Ensemble werde zerstört.

Der 2. Weltkrieg mit seinen Zerstörungen ist noch gegenwärtig. Es herrscht Aufbaustimmung in der DDR. So auch im Potsdamer VEB Hochbauprojektierung, wo viele junge Architekten und Ingenieure arbeiten, oft keine 30 Jahre alt. Die 350 Mitarbeiter planen alle Hochbauten, nicht nur auf dem Gebiet des heutigen Brandenburg. „Wir haben Tag und Nacht gearbeitet“, sagt einer, der dabei war. Der Beton sei in Strömen geflossen. Doch das bedeutet nicht, dass den jungen Hochschulabsolventen die historische Bausubstanz egal ist. Im Gegenteil.

Zu den Protestierenden gehören damals Horst und Gisela Görl, Günter Vandenhertz und Herbert Posmyk, die sich jetzt an der Baustelle des neuen Stadtschlosses treffen. „Wir haben tatsächlich gedacht, es könnte im letzten Moment noch etwas bewirken“, erinnert sich die 78-jährige Gisela Görl. Posmyk weiß noch genau, was für große Augen die Frau im Postamt am Luisenplatz gemacht hat. Ein Telegramm an Präsident Pieck? Und dann noch mit derart kritischem Inhalt? „Sie hat eine Kollegin rangeholt, ist mit ihr nach hinten verschwunden. Dann kam sie wieder und nahm den Text auf“, sagt Posmyk. Die Telegramme ins Ausland verschickt er noch am selben Abend von einem Postamt in Charlottenburg aus, die Grenzen nach West-Berlin sind ja noch offen. „So ein großer Text“, stöhnt Posmyks Bruder beim Bezahlen, der als West-Berliner zwar D-Mark verdiente, aber davon nicht viel. Er habe trotzdem alles übernommen, sagt Posmyk: „Ich war ja dazu nicht in der Lage.“ Für eine D-Mark müssen damals beim Umtausch sechs DDR-Mark hingelegt werden.

Auch wenn nicht alle Kollegen den Text unterschreiben wollen – Angst hat Gisela Görl nicht. Vielleicht lag das an ihrer damaligen Naivität, meint sie heute. Ihr Kollege Posmyk erklärt: „Man musste gewisse Dinge zu Hause schon geklärt haben.“ Der Ingenieur und Statiker rechnet nach der Aktion mit Hausdurchsuchungen. Die Einladung vom Rat des Bezirkes, „mit allen Architekten und Ingenieuren der Brigade C eine Aussprache zu führen“, kommt daher noch recht harmlos daher. Am 19. November 1959, 8 Uhr, Zimmer 89, haben sie sich im Gebäude einzufinden, in dem heute Brandenburgs Ministerpräsident residiert. „Angst hatten wir nicht“, sagt Posmyk und erzählt, wie sie sich an einem langem Tisch allen gegenübersahen, die in Potsdam was zu sagen hatten, einschließlich des Oberbürgermeisters und des Vorsitzenden des Rats des Bezirkes, des obersten Chefs der Verwaltung. Zwei Stunden wird geredet, diskutiert. Da geht die Tür auf, und ein Trupp der Kampfgruppen betritt den Saal – Arbeiter in Uniform, mit roter Fahne und umgehängten Maschinenpistolen. Die Bewaffneten nehmen im Rücken der Kritiker Aufstellung. Damit ist die Diskussion beendet und klargestellt, wer die Macht im Arbeiter-und-Bauern-Staat hat. Posmyk erinnert sich an den Schlusssatz: „Wir untersagen Ihnen jedwede Diskussion über das Stadtschloss. Und wenn nicht, werden wir Mittel und Wege finden, Sie zum Schweigen zu bringen.“

So weit kommt es dann doch nicht, aber Vandenhertz’ Tochter darf zunächst nicht auf die weiterführende Schule, um das Abitur zu machen. Was die Kritiker heute wissen: Die Reaktion fiel nicht so heftig aus, weil die Staatsmacht nichts von den Telegrammen ins Ausland wusste. Allerdings wendet sich die Moskauer Akademie an den Chef des DDR- Denkmalschutzes. „Aber der war auf unserer Seite“, sagt Herbert Posmyk. Der Tenor der Intervention aus der Hauptstadt der Siegermacht: „Wir bauen in Leningrad unsere Schlösser wieder auf, und ihr reißt sie ab...“ Es hilft nichts. Noch im November 1959 beginnen die Sprengungen, die im Mai von der SED unter Ulbricht veranlasst wurden. Die Architekten, die als Ordner eingeteilt sind, gehen nicht hin. „Wir wollten nichts sehen von der Sprengung“, sagt Gisela Görl. Bis April 1960 dauert der Abriss.

Die beiden jungen Architekten Günter Vandenhertz und Horst Görl wollen damals aber nicht nur kritisieren. Daher schlagen sie vor, das Schloss als Hotel wieder aufzubauen – keine abwegige Idee, „denn eine Touristenstadt war Potsdam ja immer“, sagt Vandenhertz. Die Zeichnungen, die die beiden damals anfertigen, besitzen sie heute noch. In die fünf Meter hohen Räume ist jeweils eine zweite Ebene zum Schlafen eingezogen. Die Bauakademie findet den Vorschlag „interessant“, merkt aber an, dass sie das nicht zu entscheiden habe. Die Potsdamer Stadtverwaltung reagiert erst gar nicht auf den Vorschlag.

Später, 1969, gewinnt Vandenhertz als Chefarchitekt den Wettbewerb dann für den Alten Markt in Potsdam. Das Areal des abgerissenen Schloss lässt sein Entwurf frei; der Platz für einen späteren Wiederaufbau bleibt. Kein Wunder, dass der Architekt Jahre nach der Wende erneut in die Schlossgeschichte eingreift: Neue Entwürfe, entstanden im Rahmen seiner Arbeit im Beirat Potsdamer Mitte des Stadtparlaments, zeigen einen Plenarsaal im Innenhof – das Stadtschloss als Landtag. Dank Vandenhertz wird diese Idee denkbar. Nun steht der 86-Jährige mit den anderen drei vor der fast vollendeten Knobelsdorff-Fassade des als Landtag wiederentstehenden Schlosses. Sie wissen: Nie aufzugeben hat sich gelohnt.

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