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Berlin: „Der verrohte Ton ist ein Anzeichen“

Psychiater Karl Beine hat Fälle von Patienten-Tötungen erforscht

Warum forschen Sie über das Thema Patienten-Tötungen?

Es gab ein Schlüsselerlebnis. An einer Klinik, an der ich gearbeitet habe, hat ein Pfleger, den ich kannte, mehrere Patienten getötet, die ich auch kannte. Das war, nachdem ich das Krankenhaus längst verlassen hatte. Aber ich war von der Tat so geschockt, dass ich versuchen wollte, das Unfassbare zu erklären. Deshalb habe ich begonnen, Gerichtsunterlagen und psychiatrische Gutachten von Fällen aus mehreren Ländern zu vergleichen.

Haben Sie schon Antworten gefunden?

Ja. Man findet sie in der Persönlichkeit der Täter. Bei allen Unterschieden haben alle eins gemeinsam: eine extreme Unsicherheit. Sie sind mehr als ihre Kollegen auf Wertschätzung und Anerkennung von anderen angewiesen, um zu funktionieren. Meistens haben sie einen helfenden Beruf ergriffen, weil sie sich davon eine besondere Anerkennung in der Gesellschaft versprochen haben.

Unsicher sind viele Menschen. Was aber treibt die Täter?

Wenn die Wertschätzung plötzlich ausbleibt, kann es bei ihnen zur Krisensituation kommen. Manchmal passiert das nach kurzer Zeit, manchmal dauert es länger wie bei Irene B. Viele wurden wie sie von Kollegen und Patienten als besonders dienstbar und engagiert beschrieben. Wenn all das Engagement zu nichts führt, werden diese Menschen völlig frustriert. Etwa, wenn es ihren Patienten trotz aller Pflegeanstrengungen immer schlechter geht. Dann haben die Täter das Gefühl, ihre Arbeit werde nicht anerkannt. Die Kranken werden zu einer ständigen Provokation. Ein anderer möglicher Grund ist mangelnde Anerkennung durch Patienten und ihre Angehörigen. Allen Tätern ist außerdem eine gewisse Unreife gemeinsam: Sie wollen sich und anderen nicht eingestehen, dass sie ihre Tätigkeit nicht mehr ertragen können. Sie lassen sich nicht versetzen, kündigen nicht, reden mit niemandem über ihre Sorgen. Oft kommt dann noch eine persönliche Krise hinzu.

Was geht dann in ihnen vor?

In dieser Situation wird die Grenze zwischen ihrem eigenen Leid und dem der Patienten fließend. Sie sind nicht mehr in der Lage zu unterscheiden. Sie wollen sich selbst erlösen und gleichzeitig den Kranken. Deshalb sind alle der Meinung, sie hätten etwas Gutes getan: Alle geben an, sie hätten aus Mitleid gehandelt.

Und das kann nicht stimmen?

Keines der Opfer hat um Erlösung gebeten. Sie waren zwar meist betagt und auch sehr krank. Aber der Todeszeitpunkt war immer überraschend. Und einige standen sogar kurz vor der Entlassung. Das eigentliche Ziel ist, sich vom unerträglichen Anblick des Kranken zu befreien. Das ist die Abwehr der eigenen Unfähigkeit.

Wo geschehen Patiententötungen besonders häufig?

Entgegen der landläufigen Annahme nur selten auf Intensivstationen. Viel häufiger kommen Morde auf anderen Krankenhausstationen und in Pflegeheimen vor. In absoluten Zahlen ist das Verhältnis zwischen männlichen und weiblichen Tätern ausgeglichen. Bedenkt man jedoch, dass mehr als 80 Prozent aller Pflegekräfte weiblich sind, merkt man, dass weitaus häufiger Männer zu Tätern werden.

Gibt es Warnhinweise für die Umgebung, dass so etwas geschehen könnte?

In allen helfenden Berufen ist eine witzige schnoddrige Sprache Gang und Gebe. So wird der Alltag verarbeitet. Wenn der Umgangston jedoch verroht, kann das ein Anzeichen sein. Zum Beispiel, wenn von ‚abkratzen’ statt sterben gesprochen wird. Oft machen die Täter auch auffällige Prognosen über Patienten, etwa‚ bis 14 Uhr 30 hat er es geschafft’. Manchmal ist die ganze Atmosphäre auf der Station von solchem Zynismus geprägt. Oft kommen dann noch Konflikte im Team hinzu. Viele Täter geraten vor den Morden in eine Außenseiterposition. Das kann gleichzeitig Anzeichen und eine der Ursachen für die Krise sein. Potenzielle Täter wirken oft innerlich erstarrt und zynisch.

Wie kann man sonst noch vorsorgen?

Leichenschauen müssten insgesamt gewissenhafter werden, sodass unnatürliche Todesfälle schneller entdeckt werden. Außerdem muss stärker kontrolliert werden, wer welche Medikamente bestellt und ausgibt. Vor allem aber dürfen die Delikte nicht tabuisiert werden. Alle müssen sich darüber im Klaren sein, dass so etwas immer und überall passieren kann. Selbst unter guten Bedingungen auf gut geführten Stationen. Es hilft allerdings, wenn Pflegekräfte die Möglichkeit haben, offen über alles, was sie belastet, zu diskutieren – auch über aggressive Fantasien. Auf jede aufgeklärte Tötung kommt eine, die niemals entdeckt wird.

Das Interview führte Daniela Martens

Karl Beine ist Professor für Psychiatrie an der Universität Witten/Herdecke. Er beschäftigt sich seit 1990 mit dem Thema Patiententötungen.

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