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Berlin: Der Viel-Gefragte

Edzard Reuter genießt die Freiheit der offenen Worte – mehr als je

Heute wird Edzard Reuter 75. Eigentlich ein Alter, in dem man sich zur Ruhe setzen könnte. Doch der Ex-Chef von Daimler-Benz und Berliner Ehrenbürger denkt nicht daran. Er tritt als Redner und Ratgeber auf, als Förderer der Kultur, und man wird den Eindruck nicht los, dass er gefragter ist denn je. Nur bei seinem früheren Unternehmen nicht.

Dem Mann geht es gut. Kein Büro, keine Sekretärin, kein Beratervertrag mehr von Daimler, nichts, worauf er Rücksicht nehmen müsste. Einfach sagen, was man denkt. Gerade eben ist er aus Berlin, seinem Zweitwohnsitz, gekommen, eingezwängt in der Economy-Class. Jetzt fläzt er sich in seinen blauen Sessel zu Hause in Stuttgart-Schönberg. Von Stund’ an sei er ein ,,Neoliberaler“, berichtet Reuter – eine Erkenntnis aus einem Gespräch mit dem Chefredakteur der ,,Berliner Zeitung“, der einst in Stuttgart war und dort einen ganz anderen Reuter kennen lernte: den Globalisierungskritiker, der die Lektüre von Karl Marx empfahl. Nun hatte Reuter Wirtschaftsminister Clement gelobt – und flugs war er von dem Journalisten in den Club der Neoliberalen aufgenommen. Es stimmte ihn vorwiegend heiter.

Der Rentner Edzard Reuter hat einfach Spaß an der Provokation, am Überraschenden, am Widerspruch. Diesen Luxus leistet er sich in seinem Ruhestand, der keiner ist. Denn nicht nur segelt er viel mit seinem Boot über den Bodensee – noch aufregender ist es, dem Ruf von Mittelständlern zu folgen und ihnen aus der Welt der Global Player zu erzählen. Vom ,,Zynismus der Haifische“, der Seifenblase New Economy, den unmoralischen Abfindungen der Manager, der Verarmung der Weltbevölkerung und der Bedeutung der Globalisierungskritiker von „Attac“. Die Unternehmer hören gespannt zu, und sie zahlen auch ordentlich. Unter 10 000 Euro ist der Redner Reuter gemeinhin nicht zu haben.

Verblüffend ist Reuters Renaissance nicht. Sie geht einher mit dem Verlust von Werten in der Gesellschaft und der Erinnerung daran, dass da mal etwas war: Ein Konzernchef, der eben nicht nur als „Kapitalvernichter“ beschimpft, sondern auch als Kronzeuge für eine soziale Marktwirtschaft gepriesen wurde. Darüber konnte der „rote Reuter“ reden wie kaum ein anderer. So einen holt man sich heute wieder gerne ins Haus, und fragt, wo er hinführe, der Turbokapitalismus – und wo der Mensch dabei bleibe.

Selbstredend genießt der hagere Herr diese Wiedergeburt. Reuter hat aufgehört, in kurzen Zyklen zu denken, weil er gelernt hat, welche Verfallsdaten Helden und Versager haben. Das letzte bezahlte Aufsichtsratsmandat hat er 2002 niedergelegt. Nur in Chemnitz hat er noch einen One-Dollar-Job als Berater der städtischen Wirtschaftsfördergesellschaft und der Messe.

Es ist diese Freiheit des Ungebundenen, die ihm erlaubt, auch als prominenter Sozialdemokrat den Kanzler einen Hallodri zu nennen. ,,Den besten Burgunder, die teuersten Cohibas“: Schröder sei es immer nur um sich gegangen und darum, bei den Großen dabei zu sein, poltert Reuter. Da kennt der Kohlrouladen-Fan kein Pardon – allenfalls eine Erklärung aus einem Lebensweg, den er, Sohn des legendären Regierenden Bürgermeisters Ernst Reuter, nie gehen musste: den von unten nach oben. Insofern, räumt der Privilegierte ein, „mag das etwas arrogant klingen“. Zugleich verspricht er dem Kanzler auch „uneingeschränkte Solidarität“: beim Thema Irak. ,,Gespenstisch“ nennt er den drohenden ,,Kreuzzug“ Bushs, „größenwahnsinnig“ die Idee, die Weltanschauung der US-Regierung dem Islam überstülpen zu wollen. Vor der Mixtur aus Öl und Ideologie graut Reuter, der weit davon entfernt ist, ein Antiamerikanist zu sein. Wie sollte er auch, als Vorstandsmitglied des Aspen-Instituts, als Berater der Chase Manhattan Bank?

Der Manager, der Politiker … – bleibt der Kulturmensch Reuter. Da seien nur die Institutionen aufgelistet, denen er, teils als Vorsitzender, in Berlin angehört: Bauhaus-Archiv, Akademie der Wissenschaften, Deutsche Nationalstiftung, Humboldt-Uni, Karl-Hofer-Gesellschaft, Freundeskreis Deutsche Oper. Nicht zu vergessen die eigene Stiftung, die er mit seiner Frau Helga ins Leben gerufen hat, um die Integration von Zuwanderern zu fördern. Dies ist die Welt, in der sich Reuter wirklich zu Hause fühlt. Hier hat er sich geöffnet, den Panzer gelöst, der ihm hinterm „eisernen Vorhang“ des Managements die Gefühle eingeschnürt hatte. Hier darf er seine Neugier ausleben, ein Schwamm sein, der Unbekanntes aufsaugt – das ist sein neues, immer noch standesgemäßes Leben.

Der ,,aufregendste Job“ aber ist dann doch wieder einer in der Wirtschaft: Seit Ende 2000 ist Reuter Verwaltungsratschef und Teilhaber des Zürcher Hightech-Unternehmens u-blox. 30 Angestellte, 30 Millionen Franken Umsatz – und große Zukunftsaussichten. Über Globale Positionssysteme (GPS) soll künftig Autobahnmaut abgerechnet werden – und die besten Chips dafür fertigt u-blox. Und wie es der Zufall will: Den Zuschlag zum Aufbau des Mautsystems hat Daimler-Chrysler erhalten. Dort, wo sie dachten, Reuter endlich los zu sein.

Josef-Otto Freudenreich

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