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Berlin: Der Westen vom Osten

Acht Länder, fünf Wochen, sechstausend Kilometer: Es gibt viel zu erzählen. Erst recht, wenn man durch die eigentlich so nahen, aber bisher so fernen Länder fährt, die am 1.Mai der Europäischen Union beitreten. Tagesspiegel-Reporter Stefan Jacobs hat sich auf den Weg gemacht – im Auto, mit Notizblock, Kamera und offenen Augen

Acht Länder, fünf Wochen, sechstausend Kilometer: Es gibt viel zu erzählen. Erst recht, wenn man durch die eigentlich so nahen, aber bisher so fernen Länder fährt, die am 1.Mai der Europäischen Union beitreten. TagesspiegelReporter Stefan Jacobs hat sich auf den Weg gemacht – im Auto, mit Notizblock, Kamera und offenen Augen

Schick und fit

Ljubljana, km 1325: Slowenien ist im Westen angekommen – weil es nie wirklich Osten war

Den Slowenen geht es zu gut. Statistisch zumindest: Erst haben sie in den jugoslawischen Länderfinanzausgleich gebuttert, und jetzt werden sie nur dank einer Brüsseler Sonderregelung nicht zum EU-Nettozahler. Das Zwei-Millionen-Land ist schick wie Österreich und hat mehr Wirtschaftskraft als alle drei baltischen Staaten zusammen. Rund um die gemütliche Hauptstadt Ljubljana herrscht praktisch Vollbeschäftigung. Und das, obwohl selbst slowenische Großbetriebe wie der Hausgeräte-Hersteller Gorenje in Ländern wie der Slowakei investieren wollen, weil ihnen die Arbeit in Slowenien zu teuer wird.

Gertrud Rantzen leitet das Büro der deutschen Wirtschaft in Ljubljana, das unter dem Dach des Deutschen Industrie- und Handelskammertages deutsche Investoren berät und Geschäftspartner vermittelt. Ihr Büro ist etwa so groß wie ein Klassenzimmer und hat Blick aufs slowenische Parlamentsgebäude. Hier also residiert die Wirtschaftsexpertin und beobachtet den Dauerboom. Im Februar haben sie und ihre vier Kolleginnen deutsche Unternehmen im Land zur Stimmung befragt. 85 Prozent der Firmen rechnen fürs laufende Jahr mit besseren Geschäften, nur zehn Prozent erwarten Stagnation. Deutschland ist mit Abstand der wichtigste Handelspartner. Seit Jahren vertreiben deutsche Versandhäuser Gorenje-Waschmaschinen unter den Namen ihrer Hausmarken, VW lässt seine Autositze in Slowenien produzieren und Siemens gehört zu den größten Arbeitgebern im Land. „Wer hier investiert, kommt nicht wegen der geringen Lohnkosten“, sagt Gertrud Rantzen. „Die Motivation ist völlig anders als beispielsweise in Polen.“ Slowenien sei Türöffner, und die große Zustimmung zum EU-Beitritt nicht finanziell, sondern politisch motiviert, um die herrschenden Verhältnisse zu stabilisieren.

Auf slowenischen Rechnungen ist der Betrag meist doppelt ausgewiesen, Hoteliers nehmen am liebsten Euro. Zwei von vier Maastricht-Kriterien erfüllt das Land schon jetzt. Gertrud Rantzen hält Ende 2006 für einen realistischen Euro-Starttermin – und fügt hinzu: „Wenn es nach den Slowenen ginge, hätten sie den Euro schon.“

Auslese auf Slowenisch

Ljubljana, km 1325: Was dem einen sein Mercedes, ist Urška Cerne ihre Sprache – ein Symbol. Bald kommt ihr übersetzter Grass in die slowenischen Buchläden. Startauflage: 600 Stück

Wenn Urška Cerne wieder mal einen Reich-Ranicki oder Grass ins Slowenische übersetzt hat, kommt er mit einer Auflage von 600 Exemplaren in die Buchhandlungen des Landes. Die Slowenen sind ein lesefreudiges Volk, berichtet Urška Cerne. Aber es gibt nur zwei Millionen von ihnen, die obendrein lieber in die Bibliothek gehen, weil die Geldmittel knapp und Bücher teuer sind.

Wenn Ende April ein Goethe-Institut in Ljubljana eröffnet, wird vielleicht sogar eine für Urška Cerne passende Stelle ausgeschrieben. Sie will das im Auge behalten, aber darauf angewiesen ist sie nicht; sie kommt auch als Freiberuflerin zurecht. Der Staat fördert Schriftstellerverband und einige freiberufliche Künstler, zahlt Betriebskosten für Theater und Opern, und auch für manche Literaturübersetzungen gibt es Zuschüsse.

Urška Cerne hat Jura, vergleichende Literaturwissenschaft und Germanistik studiert. Aufgewachsen ist sie in Sloweniens zweitgrößter Stadt Maribor, wo sie – wie alle Kinder in jugoslawischen Schulen – acht Jahre Englisch gelernt hat. Dass Russisch nicht auf dem Lehrplan stand, erklärt die 32-Jährige mit einem persönlichen Zerwürfnis zwischen Tito und Stalin. Ihr druckreifes Deutsch verdankt sie ihrer hessischen Großmutter und dem Ort ihrer Heimat: „Wenn ich lieber Milka haben wollte als jugoslawische Schokolade, dann ist meine Mutter mit mir die 16 Kilometer bis nach Österreich gefahren.“ Slowenien ist kein großes Land, aber die gefühlte Entfernung nach Graz war stets geringer als die in die Hauptstadt.

Da ist die EU-Mitgliedschaft selbstverständlich – auch wenn Urška Cerne ein „Jugoslawien-Syndrom“ kommen sieht: Früher kamen die Vorschriften aus Belgrad, bald kommen sie aus Brüssel. „Da wird viel Ignoranz auf uns zukommen. Das wird den Leuten wehtun. Slowenien, Slawonien, Slowakien?“ Urška Cerne ahnt nichts Gutes. Sie ist ja schon froh, wenn sich herumspricht, dass Slowenien nicht Dritte Welt ist. An der Begegnung mit einem Deutschen, der ihr auf einem Literaturkongress verständnisvollen Blickes einen Umschlag mit Geld in die Hand drückte, hat sie noch immer zu knabbern: „Ich fand das eine echte Beleidigung!“

Mitleid haben die Slowenen nicht mit sich selbst, sondern mit Ukrainern und Rumänen. Und ein bisschen mit Makedoniern und Kosovo-Albanern, aber die Sympathien für die einstigen jugoslawischen Mitbürger sind begrenzt. Mit Kroatien wird noch um Bankguthaben, ein gemeinsames Kernkraftwerk und den Grenzverlauf verhandelt; manchmal geraten sich auch Fischer auf der Adria in die Haare. Und Namen auf „-ic“ haben keinen guten Klang, weil seit den Kriegen alles Serbische suspekt ist, sagt Urška Cerne.

Sie findet, dass den Slowenen ein Nationalsymbol fehlt. Eine Art Mercedes oder Schweizer Uhr. Die Sprache könne das ersetzen, sagt sie. Ihr Beitrag dazu ist in jeder slowenischen Buchhandlung zu finden.

Die Grenze kommt

Ljutomer, km 1539: Der Winzer Dušan Jureš rückt an den Rand

Unter der Terrasse von Jožica und Dušan Jureš breiten sich vier Länder aus: Ganz rechts liegt Ungarn, geradeaus reicht der Blick über die Weinberge ihrer Heimat Slowenien bis nach Österreich. Und links auf dem Höhenzug beginnt Kroatien. Auch der Weg, der von der Landstraße steil bergauf zum Gut von Jožica und Dušan Jureš verläuft, führt nach Kroatien. Er ist bis zur Grenze asphaltiert, aber so schmal, dass keine zwei Autos aneinander vorbei passen. 600 Meter und eine Hand voll Häuser weiter verläuft die Grenze, die lange keine war und noch immer kaum zu erkennen ist. Aber die Leute spüren sie schon: Die Slowenen haben ein Warnschild aufgestellt, die Polizei schaut jetzt öfter vorbei. Allmählich wird die Grenze dichtgemacht. So wollen es der Vertrag von Schengen und die Beamten in Brüssel, ein gefühltes Lichtjahr von hier entfernt.

Wenn man Dušan Jureš fragt, wie er das findet, muss er erst einmal in sich hineinhorchen. Es betrifft ihn ja nicht so unmittelbar wie den Winzer am Ende der Straße, der in Slowenien wohnt und in Kroatien steht, sobald er seinen Weinberg vor dem Gartenzaun betritt. Aber auch Dušan Jureš muss sich erst noch daran gewöhnen, dass er jetzt plötzlich an den Rand rückt, nachdem er sein ganzes Leben mitten in Jugoslawien verbracht hat. Slowenien und Kroatien – das war wie Brandenburg und Sachsen. Einerseits. Andererseits mag Dušan Jureš die Kroaten nicht. Die Serben sind ihm lieber. Sie sind freundlicher, sagt er. Außerdem hat er einen serbischen Vornamen. Aber eigentlich redet er lieber über den Wein, den er mit seiner Frau in mühsamer Handarbeit hegt. 800 Liter produzieren sie im Jahr – für sich und ihre Feriengäste. Hier im Osten von Slowenien wird nur Weißwein angebaut.

Am liebsten trinkt Dušan Jureš seinen goldgelben, blumigen Traminer. Im Viertelstundentakt füllt er aus einem großen Krug sein Glas auf und gießt sich Wasser in den Wein. Wenn er Gästen nachschenkt, dann ohne große Gesten. Er ist das Gegenteil von einem Fernsehkoch. Dass die Qualität stimmt, hat er amtlich: Die kombinierte Wirts- und Wohnstube hängt voller Urkunden, und einen der vielen Pokale hat Jožica schon zum Becher für Stifte umfunktioniert, weil nirgendwo mehr Platz war. Das älteste Diplom ist von 1933 und Dušans Großvater gewidmet.

Zwischen den Urkunden verbringen die Jureš ihre Abende. Rauchen, trinken und lassen den Fernseher laufen, damit es nicht so still ist. Jožica liest in einer Illustrierten, während Dušans Blicke zwischen Fernseher, Glas und der Holzdecke schweifen. Er hat dunkle, müde Augen und bewegt sich, wenn überhaupt, dann sehr bedächtig. Manchmal redet er ein paar Worte mit seiner Frau. Und vor dem Schlafengehen tritt er hinaus und schaut in die rabenschwarze Nacht. Es ist so dunkel, dass man Himmel und Erde nicht unterscheiden kann. Irgendwo bellt ein Hund. Vielleicht beim Nachbarn, vielleicht in Kroatien.

Schwarzfahrt im Verkehrsmuseum

Budapest, km 1838: Die Tram rollt, die Zeit ist stehen geblieben

Bloß nicht mit dem Auto durch Budapest fahren, sagen alle. Also nehmen wir die Straßenbahn. Was da an die Haltestelle rollt, wäre in Berlin längst zur Cocktailbar unfunktioniert worden. Nach Überwinden einer hohen Stufe steht man in einem holzverkleideten Raum mit dünn gepolsterten Stühlchen und vielen Halteschlaufen an der Decke. Die 25-Watt-Glühlampen spenden braunes Licht, das zum Lesen nicht reicht und beim Hinausschauen in die Nacht nicht stört. Ein paar Leute sitzen schweigend und mustern jeden Zugestiegenen.

Noch familiärer wird die Atmosphäre, wenn sich nach dem schnarrenden Warnton die hauchdünnen Türen geschlossen haben. Neben jeder Tür hängt ein Locher, in den man den Fahrschein von oben einfädeln und mit kräftigem Ruck perforieren muss. Sofern man einen Fahrschein hat.

Das 100-Forint-Stück ähnelt der Zwei-Euro-Münze, aber es ist nur 40 Cent wert. Größeres Hartgeld gibt es nicht, aber am Automaten hilft kein schöner Schein. Ohne Kleingeld hat man keine Chance, und der Fahrer ist hinter der Tür unerreichbar. Während die Bahn unter dem Fuß der berühmten Kettenbrücke durchrumpelt, betrachtet man die ungarischen Buchstabenkolonnen auf dem Automaten und versteht dank des englischen Zusatzes, dass Schwarzfahren mindestens 1000 Forint kostet. Weil man die Strafe wohl auch in Scheinen zahlen kann, setzt man also eine entspannte Miene auf, lässt sich am Ufer entlangschaukeln und betrachtet das dunkle Donauwasser, das genauso schnell ist wie man selbst.

Die Reise geht weiter: In Budapest spielen Schüler die Brüsseler Bürokratie nach. Einer slowakischen Molkerei laufen die Kunden ganz von selbst zu. Und ein reicher Pole wird erst glücklich, wenn die Grenze nach Deutschland offen ist.

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