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Berlin: Der zweite Mann Berliner Verbrechen: Die Krimi-Autorin Pieke Biermann erzählt wahre Fälle

Achim war dabei, als sein Kollege Roland Krüger erschossen wurde. Für den SEK-Polizisten ist seit dem Einsatz in Neukölln nichts mehr wie es war

Es war keine Busentführung, keine Botschaftsbesetzung, keine Geiselnahme. Es ging lediglich um die Festnahme eines gefährlichen, höchstwahrscheinlich bewaffneten Täters. Ein Standardeinsatz für das Berliner Spezialeinsatzkommando (SEK). Tausendfach geübt, hunderte Male erfolgreich durchgeführt. Es wurde „der schwerste Einsatz, den wir je hatten“. Mit ihm zerstob am 23. April 2003 innerhalb kurzer Zeit ein zweiter Nimbus, aus dem sich Selbstwertgefühl speist. Ein Einbruch ins eigene Sicherheitsempfinden. Sowas reißt einem das Millimeterpapier weg, nach dem man seinen Platz in der Welt bestimmen gelernt hat. Damit muss nicht nur die gesamte Truppe klarkommen, damit musste in beiden Fällen auch der „zweite Mann“ fertig werden.

Der Nimbus Nummer eins – das SEK Berlin hat noch nie einen tödlichen Schuss abgegeben – war schon am 29. Januar 2001 am Friedrichshainer AntonSaefkow-Platz weggebrochen: Beim Versuch, eine Bande an einem bewaffneten Raubüberfall auf einen Supermarkt zu hindern, als einer der Täter Pistolen schwenkend aus dem Laden kam, auf zwei SEK-Beamte zu rannte und vom zweiten Mann, dem Sicherungsschützen für den ersten, erschossen wurde. In Notwehr, juristisch korrekt, wie ein halbes Jahr später gerichtlich festgestellt wurde.

Nimbus Nummer zwei geht im Neuköllner Rollbergviertel verloren. „Wir bestehen seit dreißig Jahren und hatten ähnliche Einsätze im drei- und vierstelligen Bereich. Und jetzt ist zum ersten Mal einer meiner Beamten auf der Strecke geblieben“, wird Jörg Manske bei der Pressekonferenz am selben Abend bewusst, „ein furchtbarer Moment“. Kriminaloberrat Manske, 44 Jahre alt, ist damals seit drei Jahren Kommandoführer des LKA 632, Chef der vier SEK- und zwei Präzisionsschützen-Teams. Erster Mann und Schildträger des Teams, das gegen halb fünf Uhr nachmittags, vor einer Wohnungstür im Erdgeschoss der Kienitzer Straße 33 steht, während ein anderes sich darauf vorbereitet, über den Balkon einzudringen, ist Roland Krüger, für Kollegen und Freunde Bulette, 37, seit zehn Jahren im SEK, Polizeikommissar. Achim Gruber (*), Polizeihauptmeister, 33 und seit sechs Jahren beim SEK, ist zweiter Mann, sein Sicherungsschütze. „Wir haben uns postiert und kurz abgeklärt, wer welche Position einnimmt.“ Das geht möglichst unmerklich. „Dann haben wir die Tür gewaltsam geöffnet.“ Das heißt Lärm und Gebrüll, mit Absicht. SEK-Teams erledigen Zugriffe, „bei denen die Festnahme im Allgemeinen vor der Begrüßung erfolgt“, wie es Klaus Hübner mal formuliert hat, der ehemalige Polizeipräsident und Gründer des SEK Berlin. Krachende Angeln, „Polizei!“-Rufe. Der Flur ist schmal, zu eng für versetztes Gehen. Bulette und Achim sind dicht hintereinander, gefolgt vom Rest des Teams. Niemand ist zu sehen. „Und keine paar Sekunden danach fielen die ersten Schüsse, und wir gingen beide zu Boden“, erzählt Achim ein Jahr später ruhig. Eine Kugel bahnt sich ihren fast unmöglichen Weg durch den schmalen freien Raum zwischen schwerem Stahlschild und ballistischem Helm und schlägt in Bulettes Gesicht. Eine andere trifft Achims linke Wade, er sackt nach links weg und kriegt beim Versuch, sich eigensichernd herumzurollen, die zweite in den rechten Oberschenkel, kurz unter dem Gesäß. Es geht rasend schnell weiter. Achim hievt sich aus dem Weg für die nachstürmenden Kollegen, Bulette bleibt mitten im Eingang liegen. Sie finden den Schützen im Wohnzimmer auf dem Boden, knieend, Hände über dem Kopf. Achim hört später, dass er einen Hülsenklemmer hatte. „Sonst hätt’ er wohl das Magazin leer gemacht.“ Er spürt noch keinen Schmerz, nur „so ein Druckgefühl in der Wade, als wenn die immer dicker wird“. Er kauert in einer Ecke. Schickt die Rettungssanitäter, die jedes SEK-Team hat, zu Bulette. Bei dem sieht’s schlimmer aus. Wie schlimm, ahnt er aus ihren Gesichtern und Dialogen. Mitten in diesem grausigen Szenario kommt ein Mädchen zu ihm gelaufen. „Zwei, drei Jahre vielleicht. Heulend, weil doch ’n bisschen Tohuwabohu war – überall Blut, überall liegen Leute, Erste Hilfe wird geleistet - das muss so ’n kleines Kind ja nicht unbedingt mitkriegen.“ Er hebt die Kleine hoch und reicht sie über den Kopf dem nächsten Kollegen weiter. Er hat selber ein kleines Kind. Die Sanitäter schaffen es, Bulette zu reanimieren. „Da hatte man kurz wieder Hoffnung, dass er überlebt“, sagt Polizeioberkommissar Thomas Schulze (*), der 39-jährige Teamführer des Einsatzes, seit zwölf Jahren beim SEK. Schulli, so nennen sie ihn, ist einer von denen, die über den leblosen Bulette drübersteigen müssen, um den Schützen festzunehmen. Und verantwortlich dafür, dass nicht das schiere Chaos losbricht.

Auch solche Abläufe sind tausendfach trainiert. „Unmittelbar danach fühlt man eigentlich wenig, da geht so ’n Automatismus los für mich als Teamführer“, sagt Schulli. Spuren sichern, Waffen abgeben für die Untersuchung auf Schmauchspuren. Angehörige benachrichtigen und betreuen. Das Schwerste. Die Teamkollegen sammeln sich im Aufenthaltsraum der Dienststelle. „Da sind auch viele gekommen, die früher beim SEK waren, die Bulette kannten“, weiß Schulli noch. „Und da wurde dann auch die eine oder andere Träne ... von den so genannten harten Jungs, ja.“ Er selbst kommt erst Tage später zum Nachdenken. „Wenn man mal kurz abschalten kann, wenn die eigenen Kinder da sind und man merkt, es hätte einen auch selbst treffen können.“

Für die Öffentlichkeit fokussiert sich sofort alles auf Bulette. Dass er „nur“ klinisch tot ist, im Koma liegt und sein Gehirn noch dreieinhalb Tage weiter leben wird, weiß abends bei der Pressekonferenz noch niemand sicher. Aber dass von einem Moment zum anderen gefeierte „Elitepolizisten mit Unbesiegbarkeitssiegel“ auch ganz banal sterbliche Menschen sind – das ist Stoff, der tagelang die Medien beherrscht. Zum Glück für Achim, so makaber es klingt. Er kann im Windschatten des Medieninteresses in Ruhe seine zwei Durchschüsse auskurieren. Kollegen und Vorgesetzte wechseln sich ab mit Besuchen, bringen ihm ins Krankenhaus, was er braucht – Bücher, Süßigkeiten. „Wir haben ihn gefüttert, damit er aussieht wie eine Klosterkatze“, feixt Manske ein Jahr später. Vor allem aber reden sie. Nehmen zum x-ten Mal auch mit ihm jede Einsatzsekunde durch, wälzen wieder und wieder die Frage: „Hab’ ich was falsch gemacht?“

Das tun sie genauso auf der Dienststelle, die nächsten Tage, die nächsten Wochen, zwischen heulendem Elend, Aggressionsschüben, Beziehungskrisen und schwarzen Löchern. Analysieren sind sie gewöhnt. Das SEK bereitet alle Einsätze penibel nach. Saugt aus jedem noch so folgenlosen kleinen Manko Honig für den nächsten. „War da wirklich alles korrekt?“, will sofort auch die Mordkommission wissen. Dabei haben die Beamten gar nicht geschossen. Sonst ist es so, dass bei jedem Schusswaffengebrauch die Beamten vernommen werden, mit aller Härte. Bis ein Gericht ihre mögliche Schuld geklärt hat, bleiben sie vom Dienst suspendiert.

In diesem Fall heißt die Frage der Richter: War Bulette selber schuld? Hat er vielleicht den Schild falsch gehalten? Jeder Hauch von Korpsgeist muss vermieden werden, deshalb geht die Kripo mit Polizisten eher harscher um. Die zweite Mordkommission, die den SEK-Einsatz zuerst hat, gibt die Ermittlung auch gleich wieder ab. Bulette hatte da kurz vor seinem Tod ein Praktikum gemacht, sie kannten ihn gut.

„Am Anfang war’s ein Vorteil, dass ich weg war, im Krankenhaus“, sagt Achim heute. Eine Klosterkatze ist er nicht mehr. Weder genudelt noch schläfrig. Er hat allerdings eine katzenhaft federnde Kraft, das Sprungbereite, den klaren, offenen Blick. Er strahlt ab, dass er genau da ist, wo er sein will. Beim SEK, „Sekie“ werden war sein Traum seit Kinderzeiten. Dafür zog er 1989 nach Berlin. Bei ihm in Süddeutschland war Einstellungsstopp. „Aber dann kam der Nachteil – bei Bulettes Beerdigung kam bei mir erst hoch, was die anderen schon verarbeitet hatten, mehr oder weniger. Da hab ich geheult.“ Psychologische Betreuung möchte er nicht. „Erstmal selber probieren. Und wenn’s dann nicht geht – da hätt’ ich gesagt: Ich möchte Hilfe haben. Damit habe ich kein Problem, ich will mich bloß nicht von Anfang an verrückt machen lassen.“ Es geht. Seine Selbstheilungskräfte reichen, wie bei über zwei Dritteln aller Menschen, die traumatische Erlebnisse hatten.

Achim schafft die Mischung aus Verarbeiten und Verdrängen, die ihm gut tut. Mit seiner Familie und seinen Kollegen. Überlebensstrategien sind individuell. Vielen Team-Kollegen helfen die Gespräche mit dem stellvertretenden Kommandoführer des SEK Frankfurt/Main, der sich gemeinsam mit einem Psychologen auf post-traumatische Probleme spezialisiert hat. Sie haben ihn sofort hergeholt. Manche brauchen längere medizinische, psychologische oder seelsorgerische Betreuung. Der eine oder andere wird das SEK vielleicht doch verlassen müssen. Sogar Beamte aus anderen Abteilungen gingen damals zur Sozialbetreuung der Polizei: „Wenn jetzt schon unsere Spezialisten erschossen werden, dann hab ich aber richtig Angst.“

Schulli dagegen fällt kurzfristig dem Konsumrausch anheim. Entdeckt das „Sich- was-Gönnen“, weil ihm plötzlich klar wird: „Kann ganz schnell zu Ende sein. Doch, das Leben hat sich verändert. Man lebt bewusster.“ Auf Eigenständigkeit und individuelle Bedürfnisse ausgerichtet ist auch die Betreuung. „Wir haben den beiden Teams bei ihrer nächsten Schicht die Freiheit gelassen, ob sie den Dienst antreten oder ob sie einfach kommen und da sind“, berichtet Manske. Er weiß, sie wollen vor allem eins: „Wieder in die Normalität zurückkehren.“ Ein Ersatzteam steht bereit. Er kann ihnen vertrauen, weil Eigenständigkeit, Eigenverantwortung, Eigeninitiative zur „Einsatzphilosophie“ des Berliner SEK gehören. „Davon lebt ein Team“, sagt Achim, „wir haben Vorgaben, ganz klar. Aber wenn plötzlich alles anders ist, muss jeder sofort umdenken und danach handeln können.“

Flache Hierarchien, die das SEK des Stadtstaates schnell und flexibel machen. Es hat 500 bis 600 Einsätze pro Jahr, die republikweit größte Zahl. Achim will in den Einsatz, sobald er wieder fit ist. Beweisen, dass er nicht vor der nächsten gewaltsam zu öffnenden Tür am liebsten weglaufen möchte. „Ich wollte einfach für mich klarstellen, dass es geht. Und heute arbeite ich wieder ganz normal. Als zweiter Mann, auch als erster.“ Heilungsprozesse brauchen Zeit. Sie gehen besser, wenn man Solidarität erfährt und nicht emotional im Stich gelassen wird mit seinen Wunden. Dass zwei Tage nach Bulettes Tod viertausend Menschen, nicht nur Polizisten, in einem Trauerzug über zwei Stunden lang von Neukölln zum Platz der Luftbrücke gelaufen sind, an der Spitze Innensenator Körting, der amtierende Polizeipräsident, Dieter Glietsch, und der ehemalige, Klaus Hübner – „das hat allen viel gegeben“, sagt Jörg Manske, „mir auch“. Ebenso, dass Kollegen von anderen Spezialtruppen zur Beerdigung kamen, von der GSG 9 des Bundesgrenzschutzes bis zum Kommando Spezialkräfte (KSK) der Bundeswehr. Und dass sogar die Berliner Ureinwohner mit ihrem nur selten reibungslosen Verhältnis zur Polizei ganz schnell Geld spenden, um Bulettes Lebensgefährtin und der gemeinsamen kleinen Tochter das Überleben zu sichern – „damit hätten wir nie gerechnet“. Je tiefer eine furchtbare Krise reinleuchtet ins eigene Selbstbild, desto mehr Wundschichten werden freigelegt und müssen „gesäubert“ werden, um vernarben zu können.

Der Nimbus der „Unkaputtbarkeit“ ist kaputt, aber er hatte dem eigenen Sicherheitsgefühl auch etwas Trügerisches gegeben. „Ich glaube, das alles hat dieses Kommando letztlich auch stärker gemacht“, findet Manske. „Wir haben etwas auf der menschlichen Seite dazugelernt, das Thema Überleben ist uns elementar deutlich geworden. Ein bisschen wie beim Älterwerden – wenn die ersten Freunde sterben, rückt einem der Tod näher. Die Nähe haben wir jetzt erfahren.“ Besonders wichtig dafür, dass diese Narbe gut verheilen kann, ist aber sicher das Urteil, dass das Berliner Kriminalgericht im März dieses Jahres gesprochen hat: Lebenslänglich wegen Mordes für den Schützen. „Weil der Richter festgestellt hat, dass der Einsatz einwandfrei war, und damit können wir auch für uns abschließen“, sagt der hagere Schulli mit dem blassen, zerknitterten Gesicht und dem Händedruck, der einem den Kaffee noch in der anderen Hand aus der Tasse schwappen lässt. „Bulette hat keine Fehler gemacht. Ein Zentimeter daneben, und er hätt ’n Loch im Jochbein gehabt, eine Platte gekriegt und am nächsten Tag mit uns gelacht.“ Hätte irgendjemand von ihnen einen Fehler gemacht, hätten sie alle große Probleme gehabt. „Es war einfach Pech.“

Aus Achims Perspektive sieht es ähnlich aus. Auch ihn entlastet das Urteil persönlich. Er hatte schwer daran zu knabbern, dass er niemanden gesehen hat. „Hätt’ ich den sehen können, hätt’ ich die Waffe gesehen, hätt’ ich reagiert, keine Frage. Dafür bin ich da.“ Wahrscheinlich geschossen. Womöglich den Angreifer erschossen. So dicht liegt das beieinander für SEK-Beamte. Auch daraufhin werden sie ausgebildet und trainiert: Dieses Dilemma auszuhalten und besonnen zu agieren. Besonderen Mut, findet Achim, erfordert das nicht. „Mut? Nein – Respekt. Vor jedem Einsatz. Sonst unterlaufen mir Fehler.“ Und noch ein Wort erscheint ihm unpassend. „Elite? Weiß ich nicht. Wir sind einfach besser ausgebildet und machen vielleicht ein bisschen mehr dafür, sag ich mal.“

(*) Namen geändert

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