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DER 30. JANUAR 1933: „Der Tag, der meine Kindheit jäh beendete“

„Wie gewöhnlich kehrte ich um zwei Uhr mittags aus der Schule nach Hause zurück. (.

„Wie gewöhnlich kehrte ich um zwei Uhr mittags aus der Schule nach Hause zurück. (...) Durch die halb geöffnete Tür zum Speisezimmer sah ich zu meiner Überraschung meine Eltern, sich am ungedeckten Esstisch stumm gegenüber sitzend. Irgendetwas schnürte mir die Kehle zu, ich ahnte, dass meinen Eltern etwas völlig Unerwartetes widerfahren sein müsste. Vater blickte Mutter an, dann richtete sich sein Blick auf mich: „Hitler ist Reichskanzler geworden,“, sagte er fast tonlos. Es war das einzige Mal, dass ich meinem Vater eine echte Erschütterung anmerkte. Damit hatte er – ein Mann der Ordnung, mit einem bestimmten Standesbewusstsein – nicht gerechnet. Es war für ihn undenkbar, solche Menschen ernst zu nehmen, mit Regierungsaufgaben zu betreuen. … Auch wenn in späteren Zeiten andere an Grauen und Schrecken nicht zu überbietende Bilder sich vor dieses Urbild schoben, so schienen mir diese stets wie durchsichtig (...), das Bild, das meiner Kindheit (… ) ein jähes Ende bereitete. (…) Fackelzüge, der „Führer“ am Fenster seines Hotels, Hakenkreuzfahnen, wie es schien, auf allen Balkonen – so sah ich es später in den Wochen- schauen. Bei uns im stillen Tiergartenviertel herrschte Ruhe (...).“

Aus: Marianne Awerbuch geb. Selbiger (1917 – 2004): Erinnerungen aus einem streitbaren Leben. Die Eltern der späteren FU-Judaistin, die 1939 nach Palästina emigrieren sollte, sind 1943 in Auschwitz ermordet worden.

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