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Berlin: Des Dichters Eckfenster

Zeitreise durch Berlin (3): Im Fieberwahn des Todeskampfes laufen an E.T.A. Hoffmann die Jahre in Berlin vorüber. Als Referendarius war er vor einem Vierteljahrhundert angekommen, jetzt will die Obrigkeit ihn wieder loswerden – zu spät

So also fühlte sich das Ende an. Mit jeder Bewegung fuhr ihm rasender Schmerz durch die gelähmten Glieder, im Delirieren des nahenden Todes durchkreuzten Trugbilder seinen ermüdeten Blick. Er drehte sein fahles Gesicht zum offenen Fenster hin und suchte seinen Sinnen einen Halt zu geben. Schwalben zogen über den klaren Sommerhimmel und umkreisten die Kuppel des Deutschen Doms. Das Stimmengewirr des Marktes schwirrte ihm in den Ohren, Hufschläge hallten vom Pflaster empor. Seit Wochen lag er nun schon so da, und der Brandgeruch wollte ihm nicht aus der Nase weichen. Mit glühenden Eisen hatten die Ärzte seinen Körper malträtiert, um die fortschreitende Lähmung zu lösen. An diesem Junitag des Jahres 1822 hoffte E.T.A. Hoffmann nur noch auf Erlösung. Es war ein rechter Tag zum Sterben.

Er phantasierte. Das Fieber versetzte ihn in einen angenehmen Rauschzustand. Es war seltsam. Der allmähliche Verlust des Bewusstseins, der Übertritt in die Zwischenwelt, zu deren Wesen er so oft dichtend Verbindung gesucht hatte, nahm ihm die Furcht. Hier kannte er sich aus. Halb wachend, halb träumend sah er sich dabei zu, wie er die Dinge, die sich ihm zunehmend verwirrten, noch einmal in eine geistige Ordnung zu zwingen versuchte. Ein vertrautes Spiel.

Im leeren Räderstuhl vor dem Fenster erscheint ihm plötzlich sein Selbstbild. Es hat dem Sterbenden den Rücken zugewandt, das Fernglas in der Hand und den Blick hinausgerichtet auf das Panorama des Gendarmenmarkts, dieses grandiosen Platzes mit dem nie rastenden Markttreiben, ganz so, wie er sich selbst gesehen und beschrieben hatte in „Des Vetters Eckfenster“, seiner letzten Erzählung. Der Gelähmte blickt auf die dicht gedrängte Volksmasse im Sonnenschein, die einem hin und her wogenden Tulpenbeet gleicht. Im Schwindel erregenden Getümmel vor dem neuen Schauspielhaus, das nach dem großen Brand von 1817 erst vor einem Jahr durch den Königlichen Baumeister Karl Friedrich Schinkel fertig gestellt wurde, ballt sich das Leben der 200 000 Einwohner zählenden Stadt. Der Anblick des Gewühls fordert den Betrachter heraus, das Auge zu bändigen und zu konzentrieren.

Nur vom erhabenen Logenplatz aus lässt sich die mannigfache Szenerie des bürgerlichen Lebens noch in gewohnte Wahrnehmungsformen einpassen. Das Fenster im zweiten Stock des Eckhauses Charlotten-/Taubenstraße rahmt das Spektakel der Großstadt, und mit dem Fernglas sucht der Todkranke nach Orientierung und entwirft eine Szene nach der andern, um das überwältigende Schaupiel zu ergründen. Er heftet seinen Blick an die Mägde mit geflochtenen Körben, die an den Ständen der Krämerinnen feilschen, an die höheren Beamtentöchter, die sie neuerdings immer häufiger auf den Markt begleiten dürfen, um den Einkauf der Lebensmittel praktisch zu erlernen.

Wenn Marktweiber streiten

Auch im chaotischen Treiben scheint die Masse einer eigenen Ordnung zu gehorchen. Wo sich zwei Marktweiber streiten, drängt die Menge zusammen. „Selbst ein ernsterer, bedrohlicher Zank wird gemeinhin von dem Volke selbst auf diese Weise gedämpft“, befindet der Kranke und stellt zufrieden fest: „Das Volk hat an äußerer Sittlichkeit gewonnen.“ Vieles hat sich seit der Franzosenherrschaft geändert. Wollte nur die Obrigkeit ihren aufgeklärten Bürgern mehr Freiheit lassen!

Die Figuren des Markttages ziehen vor Hoffmanns fiebernden Augen vorüber, die Blumenverkäuferinnen, ein erblindeter Landwehrmann, der an der Ecke um Almosen bittet, die Theatermamsell mit den ausgetretenen Ballchaussuren, der Student im gelben Flausch, der ihr wie angewurzelt hinterherstarrt, bevor er sie in der Menge aus den Augen verliert. Das Bild entgleitet ihm, erschöpft sinkt Hoffmann tiefer in den Traum, Dunkelheit umfängt sein Krankenlager.

Plötzlich steht er wieder auf dem Trottoir am Neuen Markt, an jenem 29. August 1798, als er zum ersten Mal in Berlin ist. Die Sonne versinkt hinter dem Königlichen Nationaltheater und taucht den Platz mit den palastartigen Gebäuden in majestätisches Licht. Die alten Stallungen des Kürassierregiments Gens d’armes, die sich hier befanden, hatten ihm seinen Namen gegeben. Auf dem Vorplatz des Theaters, das unter dem neuen Direktor August Wilhelm Iffland weit über die Grenzen der Residenzstadt Furore macht, reihen sich Fiaker und Kutschen, die Zuschauer strömen zur abendlichen Vorstellung. Der Neuankömmling aus Königsberg, als Referendarius ans Kammergericht berufen, ist überwältigt. Gebannt vom Licht der Kronleuchter, die das Theater illuminieren, träumt der 22-Jährige von einem eigenen Bühnenwerk.

Hoffmann träumt nicht allein. In den Zirkeln der jungen Dichter lauscht er den Ideen und Sehnsüchten der Romantiker. Hier verkehren Beamte und Offiziere, Gelehrte wie Alexander und Wilhelm von Humboldt, Künstler wie Friedrich und August Wilhelm Schlegel, Tieck, Chamisso, aber auch Prinz Louis Ferdinand von Preußen, ein politischer Hoffnungsträger der jungen Generation. Sie schließen einen Bund gegen die Herrschaft der reinen Vernunft, des Gewinnstrebens und bloßen Nützlichkeitsdenkens der neuen Zeit. Flüchtlinge des bürgerlichen Alltags, die es in die Gegenwelt der Poesie zieht.

Hoffmann reist gern in diese Gegenwelt, bevorzugt mittels Punsch. Gesichte und Schimären wanken vor seinen Augen, er hält Zwiesprache mit Geistern, Kobolden und Traumgestalten. Wieder ernüchtert, beschreibt er das Phantastische, oft bis tief in die Nacht. Er verrückt die Perspektive, Unheimliches und Unwirkliches bricht immer wieder in die reale Welt seiner Geschichten durch.

Die Geistwesen umlagern sein Bett, rüsten sich treu zur Totenwache. Verflogen die Beamtenjahre zum Broterwerb, Gerichtsassessor in Posen, Strafversetzung wegen verächtlicher Karikaturen, Warschau, der Einmarsch der Franzosen, die Entlassung aus dem Staatsdienst. Hungerjahre als freischaffender Musiker, Kapellmeister in Bamberg, Musikdirektor einer Operntruppe …

Undeutlich erscheint dem Todkranken das Gesicht des Weinhändlers Kunz, seines ersten Verlegers, in einer Augustnacht 1812. Trunken von Wein und freudiger Erregung sieht sich Hoffmann der Erfüllung seiner Träume nahe. Friedrich Baron de La Motte Fouqué, Verleger und Autor der erfolgreichen Erzählung „Undine“, hat sich bereit erklärt, das Libretto für Hoffmanns gleichnamige Oper zu schreiben.

Rückkehr nach Berlin 1814, unbezahlter Dienst am Kammergericht, zwei Jahre später Ernennung zum Rat. Gerichtsakten und Manuskriptblätter wechseln sich unter seinen Händen ab. Im Haus Charlottenstraße 56 bleibt Hoffmann ausreichend Zeit für die Schriftstellerei, das Nationaltheater hat der Dichter von seinem Eckfenster aus stets im Blick. Mit wohligem Schauer kehrt die Erinnerung an die Uraufführung seiner Oper „Undine“ zurück, des Märchens von der holden Wasserfee, die ihrem untreuen ritterlichen Gatten Huldebrand den Todeskuss gibt, bevor sie in ihr Element zurückkehrt.

Fiebernd erblickt Hoffmann die strahlende Schönheit der jungen Johanna Eunike. So wie damals am Premierenabend des 3. August 1816 steht die 18-Jährige vor ihm, Liebling des Berliner Opernpublikums in der Rolle der Undine, in den traumhaften Bühnenbildern Karl Friedrich Schinkels. „Das ganze Werk ist eines der geistvollsten, das uns die neuere Zeit geschenkt hat.“ Die Worte seines berufensten Kritikers, Carl Maria von Weber, umschmeicheln den sterbenden Dichter mit Wärme.

Perücken wie Meteore

Die Zeit verzehrt das Leben wie ein Feuer. Brandgeruch sticht ihm wieder in der Nase, wie in jener Schreckensnacht des 29. Juli 1817, als das Nationaltheater in Flammen aufging. Stundenlang kämpfen die Feuerarbeiter gegen den Brand, tausende Schaulustige drängen sich auf dem Platz, über ihren Köpfen wirbeln glühende Perücken aus den Funduskammern wie glühende Meteore am Himmel. Das Feuer droht auf benachbarte Gebäude überzugreifen. Von der gewaltigen Hitze bersten die Scheiben des Eckfensters, Ölfarbe von den Rahmen tropft heiß herab.

Im Fieber wälzt Hoffmann sich hin und her. Nicht den Flammentod, sondern das Gift der Zensur und staatliche Verfolgung muss der Dichter in seinen letzten Tagen fürchten. Mit seiner Erzählung „Meister Floh“ hatte er sich satirisch über das inquisitorische Wüten der Staatsmaschinerie lustig gemacht. Es geht um die so genannten Demagogenprozesse nach der Ermordung des Diplomaten und Dramatikers Kotzebue. König Friedrich Wilhelm III. hatte eine „Immediat-Untersuchungs-Kommission zur Ermittlung hochverräterischer Verbindungen und anderer gefährlicher Umtriebe“ berufen. Auch Kammergerichtsrat Hoffmann ist als Mitglied eingesetzt. Aus dem Polizeidirektor im Innenministerium, Geheimrat Karl Albert von Kamptz, war im „Meister Floh“ der Geheime Hofrat Knarrpanti geworden. „Das Denken“, lässt Hoffmann ihn sagen, „sei an und vor sich selbst schon eine gefährliche Operation und würde bei gefährlichen Menschen eben desto gefährlicher.“ Der König persönlich befiehlt, Hoffmann zu vernehmen. Strafversetzung droht. Doch nun ist es für einen Zugriff der Obrigkeit endgültig zu spät.

Der Dichter blinzelt ein letztes Mal in die Sonne über dem Gendarmenmarkt. Es ist der 25. Juni 1822. Ein rechter Tag zum Sterben.

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