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Berlin: Detlev Lücke (Geb. 1942)

Altphilologe, Zotenreißer, Bürger, begnadeter Opportunist.

Er war ein Glückskind, aber nicht, weil er fünf Richtige im Lotto hatte. Die hatte er auch. Er war ein Glückskind, weil er meinte, das Leben sei dazu da, es schön zu finden und es tief-leicht zu nehmen. So sah das Leben das auch. Detlev Lücke war sehr groß und breit, es wäre ohnehin nur schwer an ihm vorbeigekommen.

Zuerst fand er das Leben im „Grauen Kloster“ den Umständen entsprechend schön. Das war diese Ost-Berliner Schule, an der man Latein und Griechisch lernte, als gäbe es in einem Arbeiter- und Bauernstaat keine anderen Bildungsziele. Für viele mochte es mit dem Eintritt ins „Graue Kloster“ vorbei gewesen sein mit dem leichten Leben, aber die alten Wörter kamen einfach zu ihm. Normalen Menschen fällt es schwer, etwas zu lernen; ihm fiel es schwer, etwas wieder zu vergessen. Er war der geborene Altphilologe – warum sollte man mit diesen schönen, toten Sprachen nicht ein schönes, tief-leichtes Leben haben können? Die Stelle beim altdeutschen Lexikon hatte er schon. Beim Buchstaben G würde er anfangen, und über G würde er aller Voraussicht nach einmal sterben. Das erschreckte den eben diplomierten Altphilologen nun doch, und er dachte an eine kurzweiligere Arbeit.

So kam er zu ADN, dem Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienst. Bei ADN gab es die denkbar größte Abwechslung. Nachrichten, die eben noch nagelneu waren, waren morgen schon vergessen, die meisten bemerkte gar keiner, und so, wie die Nachrichten in der DDR formuliert wurden, waren sie bei ihrer Geburt ohnehin schon tot. Aber war das nicht zu viel Abwechslung? So saß der ADN-Redakteur eines Mittags in der Espresso-Bar Unter den Linden, wo Journalisten, „Sybille“-Models, Künstler und Akademie-Wissenschaftler sich trafen. Und die „Sonntag“-Redakteurin Jutta Voigt sagte zu dem leicht neben sich stehenden ADN-Redakteur: Komm doch einfach zu uns!

Sie wusste, dass das ein Risiko war. Dieser Große mit dem hellen Blick und dem Lachen in der Stimme, konnte zwar sehr schön reden, über alles, aber würde er auch so schreiben können?

Der „Sonntag“ war das Blatt für einen Stand, den es, so glaubt man heute, gar nicht gab in der DDR: er war die Kultur-Wochenzeitung für das gehobene Bildungsbürgertum. Gemessen an der Beliebtheit des Blattes muss dieser Stand sehr groß gewesen sein; oder der Erfolg lag eher daran, dass es in der DDR manchmal unvermeidlich war, sich über seinem Niveau zu amüsieren. Die Sonntäglichen kultivierten eine leise Verspieltheit, die langen Gedanken der Beiläufigkeit, erprobt am Kleinsten, anstoßend manchmal ans Größte.

Zum „Sonntag“ wurde man gewissermaßen mitgebracht, so wie Jutta Voigt jetzt Lücke mitbrachte. Und kaum war er da, war es, als sei er immer schon ein „Sonntags“-Kind gewesen, was irgendwie auch stimmte. Er schrieb tatsächlich genauso, wie er sprach, schnell, mit ebenso punktgenau wie beiläufig platzierter Pointe. Wahrscheinlich wird man bald auch nicht mehr glauben, dass es einen wie Lücke in der DDR wirklich gab: diesen Typus des gelassenen Bürgers.

Kein Altphilologe kann den Altphilologen in sich auf Dauer verleugnen. Aber Lücke war da nicht festgelegt. Er kannte sämtliche DDR-Witze und ebenso Zoten, die jedem Hip-Hoper die Schamesröte ins Gesicht getrieben hätte. Außerdem kannte er den Fahrplan auswendig. Kurz, Lücke war das Lexikon, von dem er im letzten Augenblick weggelaufen war, nur viel unterhaltsamer. Wer gerade nichts zu tun hatte oder sich anderweitig langweilte, ging zu Lücke.

Kein Liebhaber des tief-leichten, schönen Lebens ist ein Revolutionär, kein Altphilologe prügelt sich mit Systemen. Günter Gaus hat es seine Harmoniesucht genannt, andere haben es auch seinen Opportunismus genannt. Opportunismus ist – neben all dem, was er sonst noch ist – die Fähigkeit, mit unterschiedlichsten Menschen und Institutionen gut auszukommen. Seine Kollegen nennen ihn „einen begnadeten Opportunisten“ oder „den charmantesten Opportunisten“ und meinen das durchaus anerkennend. Er war in der Lage, eine plötzliche Verfinsterung im Mienenspiel des Chefredakteurs wahrnehmend, den schon begonnenen Satz so zu Ende zu bringen, dass das Gesicht wieder ganz hell war am Schluss.

Zum Dissidenten taugte er schon deshalb nicht, weil Dissidenten meist nur einen Hauptgedanken haben, er aber hatte lauter Neben- und Hintergedanken. Und wusste doch immer, wo die Grenze ist. Nie hat er einen Artikel geschrieben, für den er sich später schämen musste. Die Stasi resignierte vor ihm und notierte in seine Akte, dass er „von der Agenda der Staatssicherheit“ nicht zu überzeugen sei.

Und dann wurde aus dem „Sonntag“, der sich eigentlich für eine Art Parallel-„Zeit“ hielt, 1990 der „Freitag“. Der hatte anfangs schon aus basisdemokratischen Gründen gar keinen Chefredakteur, etwas später aber den mit der Fähigkeit, mit unterschiedlichsten Menschen und Institutionen gut auszukommen. Detlev Lücke, der Einiger, der Vermittler.

Redaktionsstimme West: Auf den (politischen) Inhalt kommt es an!

Die Rest-„Sonntags“-Kinder, leiser: Die Form ist der Inhalt!

Redaktionsstimme West: Mensch, Ihr könnt doch jetzt ganz einfach und schlicht sagen, was Ihr meint.

Die Rest-„Sonntags“-Kinder: Wollen wir aber nicht!

Redaktionsstimme West: Immer die großen Dinge im Auge behalten!

Die Rest-„Sonntags“-Kinder: Das Große steckt im Kleinen!

Es gibt Menschen, zu denen passt der Tod nicht. Nicht einmal Krankheit. Ein erhöhter Zuckerwert reichte, und Lücke stellte gleich seine Ernährung um und fuhr nur noch Fahrrad. Keiner seiner Freunde und Kollegen hat es geglaubt zuerst. Umgefallen im Wartezimmer seines Arztes. Das Herz. Bestimmt wieder einer dieser Lücke-Witze. Kerstin Decker

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