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Berlin: Detlev Wissinger (Geb. 1922)

Als "bester Arzt der Welt" kam er nach Nigeria

Das Nachbargrundstück der Familienvilla in Karolinenhof an der Dahme war verwaist und verwildert. Hier lag Afrika, roh und unerschlosssen. Ein Urwald, „wo wir wegen anstürmender Löwen auf die Bäume klettern mussten“. Jung-Detlev durchstreifte den Busch mit einem Massai-Speer, den er bei einem Antiquitätenhändler in Charlottenburg erworben hatte. „Schon damals stand für mich fest, dass ich Afrikaforscher werden wollte.“

1932 musste Familie Wissinger, Nachfahren der Berliner Handelsdynastie, ihre Villa aufgeben. Detlev wurde aus seinem Afrika-Paradies geworfen. Das Fichte-Gymnasium widerstrebte ihm, dieser „verstaubte Schulunsinn“ hielt ihn nur vom Forschen und Entdecken ab. Der Berufsstand des Lehrers blieb ihm zeitlebens verhasst. Zu Hause reiste er auf Buchseiten in fremde Länder oder vergrub sich in die Philosophie Friedrich Nietzsches. 1940 machte er das Abitur und meldete sich freiwillig zum Militär.

1942 kam seine Einheit nach Stalingrad, doch eine schwere Gelbsucht verschaffte ihm das Ticket für einen Lazarettzug, der Mitte November das Gebiet verließ, das eine Woche später von der Roten Armee eingeschlossen wurde. Seine beiden älteren Brüder bezahlten Hitlers Feldzüge mit ihrem Leben. Für Detlev bot ihr Opfer die Chance, als Medizinstudent von der Truppe beurlaubt zu werden. Damit war ein erster Schritt zurück ins paradiesische Afrika getan.

Die „Erfüllung“ seines Lebens begann 1961 mit einer Anstellung in Nigeria als „bester Arzt der Welt“. So schreibt es Detlev Wissinger in seinen „Erinnerungen eines Tropenarztes – Lebensweg eines Idealisten“. Der zuständige Minister von „Eastern Nigeria“ hatte seinen Wählern versprochen, den besten Arzt der Welt zu verpflichten. Wie er auf Dr. Wissinger kam, verraten die Erinnerungen nicht.

In Nigeria blieb Detlev Wissinger neun Jahre, Zeit genug, um die Landessprache Igbo zu erlernen und das freizügige wie korrupte Gesellschaftgefüge zu studieren. Er saugte alles auf, ohne es zu werten. „Ein Buschmädchen kostete damals 150 Mark, eine ausgebildete Hebamme 1500. Der zukünftige Ehemann war also völlig bankrott, wenn er die Ehe endlich geschlossen hatte. Von dem Brautpreis kaufte sich der Vater vielleicht eine neue Frau.“

Detlev Wissinger praktizierte als Chirurg und wegen des großen Bedarfs bald auch als Allroundmediziner und Geburtshelfer. Er durchlebte Hitze, Hunger, Krankheiten und Chaos ohne einen Anflug von Jammer oder Reue. Nigeria gefiel ihm gut, selbst als der östliche Teil, Biafra im Bürgerkrieg versank. Die Kinder mit den aufgeblähten Bäuchen und Hungerödemen: Was die Fernsehzuschauer auf der ganzen Welt erschütterte, beschrieb Wissinger mit der sachlichen Strenge des Arztes.

„Ich selbst magerte zum Skelett ab“ – dabei genoss er stets bevorzugte Behandlung. Kam eine ausländische Delegation vorbei, gab es ein Festessen und neuen Proviant, den Wissinger in seinen Petroleumkühlschrank stopfte. Nachts flogen Bomben, tagsüber erreichten verwundete Soldaten das Lazarett. Reporter von Spiegel und FAZ brachten Salz und Zigaretten. Wissinger verließ das Land mit einem der letzten Flugzeuge, in derselben Nacht wie der Staatspräsident.

Nach Nigeria heuerte Wissinger auf dem Lazarettschiff Helgoland an, das in Vietnam vor Anker lag. Anschließend reiste er wieder nach Afrika, diesmal nach Liberia. Dort blieb er 14 Jahre.

Jedes Jahr besuchte er für zwei Monate seine Familie in Berlin, wechselte mühelos zurück in die mitteleuropäischen Konventionen, nahm seine Vaterrolle auf, stutzte seinen Bart und trug helle Anzüge. Endlich konnte er in Ruhe lesen, Goethe, Hegel und am liebsten Nietzsche, in seiner Bibliothek im Schlafzimmer des Reihenhauses in Kladow.

Er kam meistens um die Weihnachtszeit und baute Puppenhäuser als Geschenk für die Töchter. Schöne Geschenke waren ihm wichtig, auch das Musizieren und Singen und der Besuch der Christmette. Danach reiste er zurück in „sein Afrika“.

Bekam er Zeit für einen kurzen Urlaub, besuchte er Hilfsschwestern oder ehemalige Patienten in ihren Dörfern, lebte wie sie im Busch. Er lobte dieses einfache Leben, ohne dem Luxus eines Empfangs beim Gesundheitsminister eine Woche später zu entsagen.

1986 kehrte Detlev Wissinger nach Deutschland zurück. Er hatte das Pensionsalter noch nicht ganz erreicht, aber Liberia war bankrott und wollte seinen Arbeitsvertrag nicht mehr verlängern.

In Lüneburg kaufte er ein Reihenhaus. Berlin war ihm zu laut und schmutzig. Einmal in der Woche rief er seine Tochter an, plauderte eine Stunde über den Niedergang der Galapagos-Inseln oder seinen jüngsten Besuch in Weimar. Von den großen Denkern besaß er Büsten, die er zusammen mit Dünndruck-Ausgaben gerne an seine erwachsenen Kinder verschenkte. Kam er zu Besuch, wollte er über das Lektüre-Destillat sprechen. Er war etwas wunderlich geworden, kam mit dem Verkehrsgeschehen einer Großstadt nicht mehr zurecht, zog sich aber nicht zurück wie andere Betagte. An seinen hohen Geburtstagen hielt er selbst die Rede, zu wechselnden Themen, etwa dem „Arbeitsethos“. Einige afrikanische Potentaten hatten ihn in dieser Hinsicht schwer enttäuscht.

Seine Aufzeichnungen enden mit einem Nietzsche-Zitat: Memento vivere – Denke daran zu leben. Daran hielt er sich. Als ihn dennoch der Tod ereilte, war er gerade beim Zubettgehen. Thomas Loy

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