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Deutsche in Wedding: Zu Hause geblieben und fremd geworden

Sie sind in Wedding geboren worden, aufgewachsen, nie weggegangen, seit drei Generationen. Das hat die Königs einsam gemacht. Wie es ist, sich als letzte Deutsche in der eigenen Welt fremd vorzukommen.

Tiefergelegtes röhrt um die Ecke, Bässe hämmern aus Fenstern und Schiebedächern, Hupen dröhnen, weil es wieder nicht schnell genug geht. Weil sich alles staut in der Badstraße in Berlin-Wedding. Autos parken in zweiter Reihe, Gemüsehändler schleppen Wassermelonen aus Lieferwagen, „Halal“- Metzger Lammhälften. Türkische und arabische Wortfetzen fliegen durch die Luft und vermischen sich mit orientalischem Pop aus Internet- und Telecafés.

Etwas weiter westlich, wo die Badstraße in eine andere Straße mündet und sich etwas beruhigt, muss es einmal deutsche Geschäfte gegeben haben. Zwischen dem „Salon Marokko“ und dem „Salon Diyar“ hängt ein Schild: „Bäckerei & Konditorei“. Die Schrift ist ausgeblichen, der Laden steht leer. Daneben gibt es ein Mietshaus, das auffällt. Es ist ein wenig nach hinten versetzt, und rechts und links vom Eingang steht eine gepflegte Hecke um ein paar Meter Rasen.

Hier wohnen die Königs. Unten rechts die Großeltern, viele Treppen hinauf Christine und Markus König mit ihren Töchtern Leonie, 2, und Angelina, 15 (alle Namen geändert).

Klackklack, klackklack. Das Sicherheitsschloss schnappt auf. Christine König öffnet die Tür und führt den Besuch ins Wohnzimmer.

Es ist still hier. Alles hat seinen Platz: der große Flachbildschirm, das Hochzeitsfoto im Regal, die kleine Skulptur mit den stilisierten Händen um einen Säugling. Kein Stäubchen liegt auf dem Glastisch, keine Tasse hat einen Abdruck hinterlassen. Die Schrankwand ist weiß, das Sofa beige. Die Königs wollen es hell und ordentlich haben. Denn die 84 Quadratmeter sind weit mehr als eine Wohnung für sie. Sie sind Heimat in einer Welt, die ihnen fremd geworden ist.

„Wir sind Gast im eigenen Land“, sagt Markus König.

Er ist 38 Jahre alt und nur ein paar Straßen entfernt von hier aufgewachsen. Christine König ist in diesem Haus hier groß geworden, in dem sie immer noch wohnt. Die beiden kennen sich seit der ersten Klasse. Sie hatten damals auch schon ein paar türkische Klassenkameraden, klar. Es gab auch damals schon ein türkisches Obstgeschäft in der Nachbarschaft. „Man ist ja mit denen groß geworden“, sagt Christine König. „Das ist ja auch nicht das Problem. Das Problem ist, dass es jetzt so viele sind, dass egal, wo man hingeht, alles türkisch und arabisch ist. Da kriegt man schon einen Hals.“

Aus der Bäckerei an der Ecke wurde ein türkischer Möbelladen, aus dem Kiosk der Kuaför Yusuf, aus der Metzgerei der arabische Getränkeshop. Die deutschen Nachbarn sind weggezogen, und in jede Wohnung, die frei wurde, zogen türkisch oder arabisch sprechende Menschen ein. Von den 18 Mietparteien sind noch vier deutsche geblieben.

„Bald sind wir hier ganz alleine“, sagt Christine König. Sie hat die kurzen schwarzen Haare vorne hochgegelt, das T-Shirt spannt über dem schwangeren Bauch. Am Arm ein Tattoo. Markus König hat kurze blonde Haare und trägt an diesem Sommertag kurze Hosen und T-Shirt. Die Königs machen nicht viel Gewese um sich, lange Reden zu halten, ist nicht ihr Ding. Sie haben gezögert, als die Anfrage kam, ob sie eine Journalistin in ihre Wohnung lassen würden. Dann fanden sie es gut, dass mal jemand nachfragt, wie man sich so fühlt als deutsche Minderheit in Deutschland.

Wie ist es also? Manche Nachbarn seien zu faul, den Müll in den Hof zu bringen und lassen ihn einfach irgendwo im Keller liegen, andere würden den Müll aus dem Fenster werfen. „Wo gibt’s denn so was“, sagt Markus König. Vor allem die Jugendlichen seien das Problem, beschimpfen seine Tochter als „deutsche Schlampe“.

„Wo gibt’s denn so was.“

Markus König ist jetzt richtig sauer und kann nicht mehr ruhig auf dem Sofa sitzen bleiben. „Das ist doch unser Land. Die sind die Gäste und nicht wir, die sollen sich gefälligst anpassen.“ Er fühlt sich alleingelassen von der Politik. Keiner greife richtig durch. Ob die wohl erwarten, dass sie, die Königs, sich in die Kultur der Mehrheit integrieren? Kommt nicht infrage. Sie würden zum Beispiel niemals zu einem der Ärzte nebenan gehen. Es muss ein deutscher Mediziner sein. „Der spricht unsere Sprache, dem vertraut man einfach mehr“, sagt Christine König. Auch fürs Haareschneiden fahren sie lieber ein paar U-Bahn-Stationen.

Die Königs könnten es natürlich machen wie die anderen, die mal in ihrem Haus gewohnt haben: wegziehen. Aber dafür, so ihre Bedingung, müssten auch die Großeltern im neuen Heim Platz finden. Also geht es schon mal nicht. Jedenfalls nicht einfach. Wenn man umgeben ist von der Fremde, muss man zusammenhalten. So reagieren Minderheiten überall auf der Welt, auch die Deutschen in Wedding.

Aber vor allem ist Umziehen finanziell nicht drin. Markus König arbeitet als Pfleger im Seniorenheim. Das Gehalt reicht für die 770 Euro Miete hier im Kiez, mehr geht nicht. Auch Urlaub nicht. In wenigen Wochen kommt das dritte Kind.

Was Helmut König macht, wenn er Sehnsucht nach Deutschen hat, lesen Sie auf der nächsten Seite.

Die Großeltern im Erdgeschoss können sich ein Leben woanders gar nicht vorstellen. Sie sind in Wedding aufgewachsen, er in der Maxstraße, sie in der Lortzingstraße. Sein Vater war Schuhmacher, und auch dessen Eltern und die Generation davor lebten schon hier.

„Wo sollen wir denn hin?“, fragt Helmut König in schnoddrigem Berlinerisch und lässt sich fallen in einen tiefen Wohnzimmersessel aus braunem Kunstleder. Er ist jetzt 67 Jahre alt, graue Strähnen mischen sich unter die schwarzen Haare, der Schnauzbart ist immer noch buschig.

Anne König ist 69 und hat ein weiches, zartes Gesicht. „Wir haben nichts gegen Ausländer“, sagen die beiden. An Fremde ist man in Wedding gewöhnt. Nach dem Krieg kamen die Flüchtlinge aus Ostpreußen, dann die aus der Ostzone, nach dem Mauerbau die Türken. 1965 ist Anne König zum ersten Mal aufgefallen, dass die Fremden immer fremder werden. Sie arbeitete bei der AEG und setzte ein Jahr aus, als der älteste Sohn geboren wurde. Als sie zurückkam, saßen Frauen mit Kopftüchern an den Fließbändern. Sonntags breiteten die neuen Familien in den Parkanlagen ihre Decken aus. In den Parkanlagen! Das hätten wir Deutschen uns nicht getraut, sagt Anne König. Stand doch überall: „Betreten verboten“. Manchmal legten die Neuankömmlinge die Decken auch mitten auf den Bürgersteig und setzten sich darauf. Da haben sich die Königs schon sehr gewundert.

Als sie 1977 in das neu gebaute Mietshaus zogen, war die Abmachung mit dem Eigentümer: nur eine türkische Familie. Doch irgendwann galt das nicht mehr. Irgendwann starb auch die Hauswartsfrau, die für Ordnung gesorgt hatte. Jetzt kommt einmal die Woche ein Putzdienst, aber es gibt niemanden, der allen signalisiert: Ich bin hier die Autorität, ich setze die Regeln.

Ein bisschen ist Helmut König in die Rolle geschlüpft. Er stutzt die Hecke vorne zur Straße, schneidet den Rasen und schimpft mit den Kindern. An die ausländischen Geschäfte muss man sich wohl gewöhnen, sagt er. Wenn nur die Kinder nicht so verzogen wären. Spielen Fußball im Hof, reißen Zäune nieder, lassen Eispapier und Kaugummi fallen, wo sie gerade stehen. Er hat einen Mülleimer neben die Haustür gestellt. Genutzt hat es nicht viel. Auch an diesem Tag fliegt Bonbonpapier auf den Treppen herum.

Helmut König war Dachdecker. Doch, ja, die türkischen Kollegen auf dem Bau waren nett, sagt er. Aber die arabischen Einwanderer? Die sind noch mal wieder fremder. Es sind Nuancen. Manchmal würde man nun Frauen sehen, die sich gänzlich verschleiert hätten. Als hätten sie Angst. Vor den Königs?

Aber so viel kriegen die nicht mit von dem, was sich vor der Tür abspielt. Anne König kann nur noch mit Mühe laufen, die Hüfte und die Knie machen ihr zu schaffen. So leben die Großeltern König vor allem in ihren dreieinhalb Zimmern, auf dem Balkon und in dem kleinen Garten, der in den grauen Hinterhof hinausgeht. Die bunten Sommerblumen stehen akkurat, die Erde ist frisch geharkt. Auch eine Art, gegen die Unordnung mancher Nachbarn anzukämpfen.

Wenn Helmut König Sehnsucht nach Deutschen hat, geht er zu Reichelt. In der Maxstraße am Imbiss auf dem Parkplatz trinkt er ein alkoholfreies Bierchen mit anderen letzten deutschen Männern.

Wer in die Fremde geht, ist vielleicht darauf gefasst, sich verändern zu müssen. Die in ihrer Heimat Gebliebenen rechnen nicht damit. Die Fremde um sie herum trifft sie als etwas, für das sie nur resignierende Worte haben. „Als es noch deutsche Geschäfte gab, war alles persönlicher“, sagt Anne König. „Da kannte man sich und hat einen Schwatz gehalten.“ Wenn sie jetzt mit deutschen Frauen reden will, geht sie auf den Trödelmarkt. Dort hat sie Engel, Kruzifix und auch die Madonna mit dem Kind gekauft, die im Wohnzimmerschrank stehen und über dem Sofa hängen. Sie konnte die Figuren nicht stehen lassen auf dem Markt. Es gibt nur noch so wenige Christen im Kiez, da kommen die noch in falsche Hände. Sie hat ihnen bei sich Asyl gegeben.

Warum Schule auch eine Kampfzone ist, erfahren Sie auf der nächsten Seite.

Am Sonntag zuvor ist Enkelin Angelina „eingesegnet“ worden. Die Großeltern erzählen stolz davon. Nicht dass sie sonderlich religiös wären, die Königs, aber Familientradition eben. Angelina war mit fünf anderen Jugendlichen in der Konfirmandengruppe; es war die vorerst letzte Gruppe in der großen, alten Schinkelkirche in der Badstraße.

Angelina ist 15 Jahre alt, groß und schlank und hat schwarze lange Haare. Ihr Name klingt so schön amerikanisch, fanden ihre Eltern. Angelina wurde in diese fremde, türkisch-arabische Welt hineingeboren, schon in der Grundschule gehörte sie zur Minderheit, jetzt in der Realschule ist sie es erst recht. Sie kann sich aber nicht wie ihre Großeltern in der Wohnung verkriechen, anders auch als ihre Eltern hat sie ihren Platz in der Gesellschaft noch nicht gefunden.

Angelina braucht gut zwanzig Minuten zu Fuß zur Schule. Im Hof werfen hohe Bäume Schatten. Angelina sitzt auf einer Bank in einer kleinen Laube im Schulhof. Sie mag Schwarz. Schwarze Klamotten, schwarzer Kajalstift um die Augen, ein bisschen gruftimäßig. Heute prangt ein brüllender Löwenkopf auf ihrem schwarzen T-Shirt, dazu viel Leopardenmuster auf Schuhen, Tasche und Mäppchen.

„Ich liebe diese wilden Tierchen“, sagt sie, „die sind stark und schnell und lassen sich nichts gefallen.“ Angelina geht mit ihrer tiefen Stimme noch ein bisschen runter, faucht und formt mit den Händen Löwentatzen. Das Schwarze und die Wildkatzen sind mehr als nur eine Vorliebe. Sie sind auch Abgrenzung gegenüber den Mitschülern, die eher auf Glitzerndes und Buntes stehen, auf rote und grüne T-Shirts, blaue und pinkfarbene Kopftücher. Es signalisiert: Lasst mich in Ruhe.

In ihrem Jahrgang gibt es drei deutschstämmige Jugendliche. Die meisten anderen kommen aus türkischen und arabischen Familien. Jeden Tag geht es darum, wer die Regeln bestimmt: die Mehrheit oder die Minderheit, zu der auch die Lehrer gehören. Schule ist für Angelina deshalb nicht nur ein Ort, wo man lernt und Freundschaften schließt. Schule ist immer auch Kampfzone. Sie muss auf Angriffe gefasst sein. Vor allem die arabischen Jungs setzen ihr zu. Aber Angelina übertreibt es nicht mit der Abgrenzung, sie will die Jungs nicht unnötig provozieren. Von wegen „deutsche Schlampe“, sagt sie und zieht ihre Unterlippe nach vorne zu einer trotzigen Schnute. „Mein T-Shirt ist auch nicht tiefer ausgeschnitten als das der anderen Mädchen.“

Die Lehrer haben vor ein paar Jahren klare Verhaltensregeln eingeführt. Auf dem Schulgelände darf seitdem nur Deutsch gesprochen werden. Jetzt verstehen die deutschen Schüler und Lehrer wenigstens, was man ihnen an den Kopf wirft, und sie können darauf reagieren. Auch Projekte wie gemeinsames Theaterspielen und Shirts mit dem Schullogo sollen den Zusammenhalt fördern. Das hilft.

Anfang des Jahres war es trotzdem besonders schlimm, sagt Angelina, da hätten die arabischen Jungs sie nicht nur gehänselt, sondern auch nach ihr getreten, nur weil sie selbst mal ein Bein in die Höhe geschwungen habe. Die Lehrer hätten sie nicht sonderlich unterstützt. Sie hat dann Verteidigungsstrategie zwei angewandt: sich wehren. Sie hat zurückgeblökt und -getreten. Als auch das nicht geholfen hat, kam ihr Vater in die Schule und hat mit dem Direktor gesprochen und der mit den Jungs. Seitdem hat sie ihre Ruhe.

„Die deutschen Schüler haben es schwer“, sagt die Klassenlehrerin, „die müssen sehen, wie sie sich durchsetzen.“ Aber das muss sie selbst auch.

Gleich ist die Pause zu Ende. Angelina dreht noch eine Runde ums Schulgebäude zusammen mit Lara, dem anderen deutschen Mädchen in ihrer Klasse, und Özlem, die aus einer türkischen Familie kommt. Die drei sind schon zusammen in die Grundschule gegangen, sind beste Freundinnen und helfen sich. Sie treffen sich auch nachmittags außerhalb der Schule, gehen schwimmen im Humboldthain. Lara und Özlem sind Angelinas feste Bastion. Mit ihnen lässt sich Schule aushalten.

Später aber, wenn sie eine Ausbildung absolviert und eine Arbeit gefunden hat, dann will sie wegziehen aus dem Wedding. Nach Buckow vielleicht. Da wohnt ihr Onkel. Da ist es ruhig und ordentlich und nicht so anstrengend. Da sind die Deutschen in der Überzahl.

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