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Berlin: Diagnose: Lebenslang

An chronischen Schmerzen leidet Simone Fox seit acht Jahren. Sie hat kaum noch Freunde, wenig Geld und reist von Arzt zu Arzt. Aber das System ist auf Patienten wie sie nicht eingestellt.

Simone Fox weiß immer noch nicht, wie das passieren konnte. Sie ging zur Tür hinaus und fiel. Sie war auf dem Weg zur Arbeit, eine energische Blondine, schmal und sportlich. Sie war Arzthelferin. Liebte ihren Beruf. Leitete eine Praxis. Und sie war spät dran, an diesem Morgen. Vielleicht war sie gestolpert, sie weiß es nicht mehr. Sie sieht sich immer noch da sitzen, den linken Fuß absurd verdreht. Zweifacher Bruch des oberen Sprunggelenks, sagte man ihr im Krankenhaus. Das war am 20. Mai 1996.

Acht Jahre später, jetzt, mit 30 Jahren, ist Simone Fox auf Zeit berentet. Sie hat neun Operationen hinter sich, die zehnte ist in Planung. Sie ist zur Schmerznomadin geworden auf der Reise von Experte zu Experte, Bochum, Berlin, Hamburg, Duisburg, Mühlheim, Bad Mergentheim… Sie hat wenig Geld und kaum noch Freunde. Der Schmerz hat sich in ihr Leben geschlichen und es aufgefressen, bis nur er ihr als Gesellschaft blieb.

Simone Fox ist einer von rund acht Millionen Menschen in Deutschland, die ständig unter Schmerzen leiden – drei bis fünf Millionen unter schweren –, und gemessen an dieser Zahl gibt es immer noch wenig Hilfe. Es gibt ein Schmerztelefon, es gibt die Deutsche Schmerzliga, ein gemeinnütziger Verein, es gibt sogar eine Zeitschrift: „Nova“. Aber nur 400 Ärzte bundesweit haben eine spezielle Ausbildung. Maximal ein Viertel des Bedarfs sei gedeckt, sagt Michael Schenk, Leiter der Interdisziplinären Schmerzambulanz an der Charité Mitte. Das liege daran, dass das Fach an den Universitäten bisher nicht gelehrt wurde – erst ab Winter wird es einen ersten Studiengang geben, an der Charité. „Deshalb“, sagt Schenk, „haben niedergelassene Ärzte, ohne sie schelten zu wollen, oft wenig Ahnung.“ Und wohl auch wenig Lust, sich mit diesen anstrengenden Menschen zu befassen, mit denen man reden, reden, reden muss.

Und während die Patienten von Arzt zu Arzt rennen, wird der Schmerz chronisch. Er wird zur Krankheit, ganz unabhängig von der ursprünglichen Ursache. Die ständigen Schmerzreize verändern sogar das Gehirn, es bildet ein eigenes Schmerzgedächtnis. Und die Schmerzrezeptoren werden so sensibel, dass der Patient zum Schluss schreit, wenn man ihn nur leicht an der Schulter berührt.

Bei Simone Fox ist schief gelaufen, was nur schief laufen konnte. Anfangs war es nur, dass die Ärzte einen der Brüche im Sprunggelenk übersahen, es waren drei statt zwei. Monatelang litt Simone Fox, bis der Fuß nochmal gebrochen und neu vernietet wurde. Dann guckte plötzlich eine Schraube aus der Haut. Noch eine OP. Und noch eine, weil sich Knochenzysten gebildet hatten. Und immer mehr Untersuchungen, weil der Knochen mittlerweile so geschädigt war, dass er starb.

„Die waren alle so nett damals, und ich fand es nicht schlimm, dass immer neue Ärzte auftauchten“, sagt Simone Fox heute. Ihre Krankheitsgeschichte zersplitterte im System, was oft vorkommt bei Schmerzpatienten, „und wie sich der Schmerz so langsam als Dauergast eingerichtet hat, bekam keiner so richtig mit“, sagt Simone Fox. Sie sitzt im Rollstuhl, die Krankenschwester war gerade da und hat sie gewaschen, die Haushaltshilfe kommt gleich. Hilflos zu sein, das macht ihr kaum noch was. Viel schlimmer ist die Untätigkeit. Zu viel Zeit zum Grübeln. Wer hat Schuld? Hat wer Schuld? Warum ich? Werd’ ich je Familie haben?

Nach einem Jahr bekam Simone Fox dann Arthrose.Keiner konnte sich erklären, warum sie so schnell so heftig wurde. Pech, eben. Dann eine Nervenwucherung. Immer mehr Schmerzen, bis die Ärzte entschieden: Das Gelenk muss versteift werden. Wieder ins Krankenhaus – wieder ein Versuch gescheitert, ein normales Leben zu führen. Gegen die Schmerzen half nur noch Morphin. Doch in diesem Produkt war Lactose drin, und wie es so ist, wenn eine Lawine in Gang kommt: Simone Fox entwickelte eine Lactose-Unverträglichkeit. Die blieb unerkannt. Und der Arzt meinte: Wenn Sie Schmerzen haben, nehmen Sie mehr Morphium.

Auf der Skala der World Health Organisation lag die Intensität ihrer Schmerzen dann irgendwann bei Zehn. Sie konnte nicht mehr sitzen, liegen, schlafen, kroch auf allen Vieren zur Toilette. Zum Schluss wurde Simone Fox an eine Schmerzklinik überwiesen, dorthin, wo die hoffnungslosen Fälle landen, mit der Diagnose: Sie werden ein Leben lang Schmerzen haben, Sie können nur noch lernen, damit umzugehen. Und das, sagt Simone Fox, klappe mal gut, aber öfter gar nicht. Ihr Freund hat sie gerade verlassen, hat es einfach nicht mehr ausgehalten mit ihr. „Ganz typisch für Schmerzkranke“, sagt Erwin Boss, Chef der Schmerzklinik am Arkauwald und Simone Fox’ Arzt. „Chronischer Schmerz führt oft zu Einsamkeit.“ Solche Menschen sind schwierig.

Denn immer, sagen Schmerzkranke, bleibe da eine unsichtbare Barriere zwischen ihnen und den Gesunden: die Unmöglichkeit, Dauerschmerz nachzuvollziehen. Man sieht ihn ja nicht, den Kampf des Körpers gegen sich selbst. Und die Erfahrung eines Gesunden ist eben, dass Schmerz nicht andauert. Simone Fox hat das oft zu spüren bekommen, auf Ämtern beispielsweise, wenn da hinter dem Schreibtisch wieder einer saß, der, anfangs noch bemüht, zum Schluss sagte: Jetzt stellen Sie sich doch nicht so an!

Es werde zwar langsam besser mit der öffentlichen Akzeptanz von Dauerschmerz, aber als Krankheit anerkannt sei er noch nirgendwo, sagt Schmerzarzt Erwin Boss, und Sachbearbeiter blockten oft bei dieser „Phantomkrankheit“. Simone Fox hat drei Jahre gebraucht, um an einen Schwerbehindertenausweis zu kommen. Sie lebt heute von 585 Euro BfA–Rente und einer Unfallrente von 312 Euro. Nach acht Jahren einseitiger Belastung ist nun auch der Rücken kaputt und die rechte Hüfte. Wirbel verrutschen, Arme und Hände tun weh, Simone Fox schläft im Stufenbett, „wie eine alte Frau“, sagt sie. Aber am traurigsten ist sie, dass sie so zugenommen hat, vom vielen Liegen.

Sie ist 30. Sie hat keine Pläne.

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