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Berlin: „Die Akte ist gerade unterwegs“

Ein alter Feind lähmt Europas größtes Amtsgericht: der lange Dienstweg. Doch das soll sich ändern. In Moabit hält der Computer Einzug – ganz langsam, spätestens aber bis 2005. Noch lautet der Wahlspruch:

WIE RETTEN WIR BERLIN?

Das Zählen der Briefe und Akten haben sie alle längst aufgegeben. Der Mann, der den langstieligen Eingangsstempel schwingt. Der Justizwachtmeister, der den mannshohen Aktenwagen durch die Gänge schiebt. Und der Chef der Poststelle im Amtsgericht Tiergarten sowieso. Gezählt wird an der Turmstraße in anderen Größenordnungen. „Wir bewegen in der Poststelle täglich drei bis dreieinhalb Tonnen Papier“, sagt Detlef Lang.

Der Zustelldienst in Europas größtem Amtsgericht funktioniert noch fast so wie vor 100 Jahren. Grüne Fingerkuppenkappen erleichtern das Blättern, Mappen werden mit Bindfaden verknotet, die Stempelzeiten per Hand umgestellt. Und mit den Aktenwägelchen waren auch die Vor- und Vor-Vorgänger der Wachtmeister auf den Gängen unterwegs. Die Männer und die roten Akten darauf legen lange Wege zurück. Es geht im Moabiter Kriminalgericht über dunkle Flure, Hebebühnen und Fahrstühle. Es geht von der Post- zur Verteilerstelle, dann von der Geschäftsstelle zum Richter, wieder zur Geschäftsstelle, in die Kanzlei zum Schreiben, zur Geschäftsstelle... Schätzungsweise 10 000 Akten werden hier täglich hin- und hergetragen, genau weiß das niemand. „Da würden wir ja verrückt werden“, sagt Hans-Michael Borgas, im Amtsgericht Tiergarten zuständig für die Organisation. Viele Tage dauert es, bis eine Akte ihr Ziel erreicht, außer ein Brief ist wirklich eilig. Dann geht es auch mal schneller.

Lange stand die Zeit in Moabit still, aber jetzt soll es in Siebenmeilenstiefeln vorangehen. Gab es rund ums Millennium nur ein zentrales Faxgerät, steht jetzt zumindest in jeder Geschäftsstelle eines. Einen Kopierer gibt es jetzt auf jedem Flur. Die Richter haben, wenn sie denn wollen, seit einem Jahr in ihrem Zimmer einen Anrufbeantworter. Der Standard der 80er Jahre dürfte an der Turmstraße erreicht sein, immerhin, und es geht weiter. Mitte des Jahres soll das Gericht „komplett verkabelt“ werden, dann kommen die Computer, die Schulungen beginnen. . .

Die Staatsanwaltschaft hat es bereits im Februar vermeldet: Arbeit voll auf Computer umgestellt. Im Amtsgericht Tiergarten wird es voraussichtlich Ende 2004 soweit sein, dann will man auch die Verbindung zur Software der Ankläger hergestellt haben. „Das Geld steht bereit“, sagt Borgas auf dem Weg zu seiner Geschäftsstelle. Hier arbeiten die Mitarbeiter noch „auf 100-Prozent-Handbetrieb“. Akten stapeln sich bis zur Decke, in und auf den Regalen, den Schreibtischen, den Fensterbrettern. Der Umstellung sieht die Frau am Schreibtisch eher skeptisch entgegen. „Wenn mir der Computer abstürzt, komme ich den ganzen Tag nicht weiter“, sagt Manuela Grawendowiz. „Wenn mir der Karteikasten runterfällt, muss ich nur die Karten neu sortieren.“

Es kommt einiges zu auf die Mitarbeiter in den Büros. Erst die Einführung in die EDV, denn bei den meisten muss man „bei Null anfangen“, sagt Borgas. Schulung fürs AULAK-Programm (Automation Landes-, Amts- und Kammergericht). Fortbildungen...

Ein Anruf bei Gericht. Vor allem die Rechtsanwälte haben diese Antwort kennen und hassen gelernt: „Keine Ahnung, die Akte ist gerade unterwegs.“ 2005 soll Schluss sein mit den ewigen Aktenwegen zwischen Richter, Geschäftsstelle und Kanzlei. Dann soll die Akte immer in der „Service-Einheit“ zu finden sein, jeder Mitarbeiter „für alles“ zuständig sein. Dass dann vielleicht auch die Richter einiges schon selbst an ihrem PC erledigen, gilt als nicht ausgeschlossen. „Ich kann aber keinen Richter zwingen. Das basiert auf Freiwilligkeit“, sagt Borgas.

Trotzdem ist er zuversichtlich. 160 Abteilungen zählen zum Amtsgericht Tiergarten, davon haben 21 im Gebäude in der Kirchstraße bereits auf „Aulak“ umgestellt. „Die Anwendung läuft sehr gut“, sagt Borgas. Auch, wenn bei laufendem Betrieb umgestellt wurde. Auch, wenn dadurch in der Kirchstraße schon jetzt rund 6000 Akten liegen geblieben sind.

Der Berg wird weiter wachsen. „Das Beste wäre, wir könnten hier ein Jahr zu machen“, sagt Borgas – und weiß genau: Sein Wunsch bleibt unerhört.

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