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Berlin: Die charmante Vorstadt

Künstler haben das bescheidene, grüne Pankow immer geliebt. Jetzt entdecken es Familien. Einen Pfarrer im Unruhestand freut das, ein Wirt profitiert davon

Nach dem Heiligabend-Gottesdienst im historischen Jahr 1989 hatte er eine Idee: „Ich geh’ zu Egon Krenz. Der muss jetzt sehr einsam sein. Die Starken von gestern sind plötzlich die Schwachen von heute. In der DDR habe ich gegen diese Leute gekämpft, aber wenn sie gefallen sind, muss man nicht nachtreten. Vielleicht schlägt er mir die Tür vor der Nase zu, vielleicht auch nicht. Dann stand ich vor dem Haus, zündete eine Kerze an, klingelte.“ Krenz öffnete. „Guten Abend, Genosse“, sagte er. Und der Pankower Superintendent Werner Krätschell antwortete: „Herr Krenz, ich bin kein Genosse, ich bin hier der Pfarrer. Vielleicht möchten Sie gerade heute mit mir reden.“ Das Gespräch mit dem Ex-Generalsekretär dauerte drei Stunden. „Es war wie eine Beichte. Und am Schluss sagte er, weil er vermutete, dass eine Gefängniszelle auf ihn wartete: ,Ich würde mich freuen, wenn Sie mich dort besuchen.’“ Das tat Krätschell.

Der 67-Jährige schiebt diese Episode zwischen die Geschichten über seinen Bezirk Pankow, dessen Flair er eine Mischung aus Ländlichem und Großstädtischem nennt. Werner Krätschell ist Seelsorger, Ortschronist und kritischer Begleiter kommunaler Geschehnisse. Letztens hat er ein im Jahr 1908 geborenes Fräulein Pankow beerdigt, auf deren Geburtsschein stand: geb. in Pankow, Kreis Niederbarnim. Vor 100 Jahren war Pankow noch nicht Berlin, es war Vorstadt. Dahin fuhren die Leute in die Sommerfrische, und wer Geld hatte, baute sich ein Häuschen. „Pankow hat schon immer Geist und Kunst angezogen, bis heute“, sagt der Pastor und erinnert an Friedrich II., der seiner Gattin Elisabeth Christine gesagt haben soll: „Madame, ich schenke Ihnen das Schloss Schönhausen, da können Sie schön hausen.“ Was sie dann auch tat. Der Vorleser der Königin wohnte in jenem Haus, das viel später das Krankenhaus Maria Heimsuchung beherbergte, in dem – großer Sprung ins Jahr 1941 – Eberhard Diepgen geboren und getauft wurde.

In Pankow fügt sich eins zum anderen. „Hier haben sich immer Dichter und Musiker wohlgefühlt. Und hier gab es stets eine fruchtbare, wirklich wunderbare Spannung zwischen Macht und Gegenmacht.“ In der Nazizeit galt Pankow als „Dahlem des Nordens“, alle fünf Pfarrer waren, wie ihr Bruder Martin Niemöller in Dahlem, Mitglieder der Bekennenden Kirche. In der DDR scharte sich alles Progressive um Krätschell und das Pfarrer-Ehepaar Misselwitz im Friedenskreis der Kirchengemeinde Alt-Pankow. Aufsehen erregten deutschlandweit die Vorgänge an der Ossietzky-Oberschule mit den staatlichen Maßnahmen gegen aufmüpfige Schüler. „Vor meinem Gemeindehaus standen die Leute, um Gorbatschow bei seinem Staatsbesuch im Oktober 1989 einen emphatischen Empfang zu bereiten, es war wie Jesus’ Einzug in Jerusalem.“ Dann kam der runde Tisch, an dem der Superintendent teilnahm und mit dafür sorgte, dass Udo Lindenberg endlich mit seinem Sonderzug nach Pankow rollen konnte.

Und heute? Der Pastor erzählt, was die Leute sagen: Singles wohnen in Mitte. Jemand mit Kind zieht mit der Partnerin nach Prenzlauer Berg, und ab zwei Kindern gehen sie nach Pankow. Hier gibt es außer viel Grün neue Geschäfte hinter frischen Fassaden, das Einkaufszentrum am Rathaus. „Und jetzt haben die Feinschmecker aus dem Westen Pankow entdeckt.“ Krätschell meint eine neue geistige Elite, die ihre Kinder in die evangelische Schule schickt und ihren Nachwuchs übers Taufbecken hält. Und die eine alte Pankower Regel befolgt: mehr sein als scheinen, die Tugend der Bescheidenheit und Zurückhaltung. „Wer hier angibt, hat schon verloren.“ Nebenbei erfährt man, dass Krätschell als Gastprofessor in Amerika den jungen Leuten glaubwürdig erklärt, wie Leiden Charaktere formen kann. Er hat immer zu tun, der Urenkel eines königlich-preußischen Superintendenten. Und nun plant er etwas ganz Ausgefallenes: Er schreibt einen Krimi. Schauplatz: Pankow. Lothar Heinke

Hier wohnte in seinem letzten Lebensjahr der Schriftsteller Hans Fallada. Hier schrieb er den Roman „Jeder stirbt für sich allein“. So sagt es die Gedenktafel an dem Zweifamilienhaus mit der Adresse Rudolf-Ditzen-Weg 19 im Pankower Ortsteil Niederschönhausen. Ein paar Häuser weiter erinnert ein Schild an Johannes R. Becher, der seinem Dichterkollegen das Haus besorgt hatte. Wilhelm Pieck wohnte hier, Otto Grotewohl, Walter Ulbricht – all die „Machthaber in Pankoff“, wie Konrad Adenauer den Bezirk in Verruf brachte zu Zeiten, als die Villen streng bewacht waren. Bis eines Tages „das Städtchen“ zur Besichtigung freigegeben wurde, weil sich seine prominentesten Bewohner sicherheitshalber ins brandenburgische Wandlitz abgesetzt hatten. Erst nach der Wende kam einer zurück – Egon Krenz. Ansonsten schlummerten die Ostvillen der neuen Zeit entgegen. „Das lag hier irgendwie im Dornröschenschlaf“, erinnert sich Andreas Herrmann, zugezogen aus Bayern. Vor fünf Jahren eröffnete er, Quereinsteiger in die Gastronomie, ausgerechnet hier ein Restaurant. Und brachte Leben ins totenstille Viertel.

Der Münchener Herrmann, 46, früher Regisseur, lebt „eine echte Ost-West-Ehe“, wie er sagt. Seiner Frau begegnete er bei einer Inszenierung in Eisenach. Sie war eine Tänzerin. Mit ihren fünf Kindern leben sie im Haus am Majakowskiring. Zu DDR-Zeiten muss das ein Regierungsgästehaus gewesen sein, denn „jedes Zimmer hatte ungefähr 20 Telefonanschlüsse, und ganz oben unterm Dach gab es eine kleine Zentrale“. Dieses merkwürdige, aber stabile und ausbaufähige Gebäude kauften die Herrmanns im Jahr 2001, und der Theatermann besann sich seines Kindheitstraums, am liebsten einmal Koch zu werden. Er baute in Niederschönhausen, wo kultivierte Restaurationen fehlten, sein neues Wohnhaus im unteren Teil zum Gasthaus aus und benannte es nach der Straße: Majakowski. Der revolutionäre Dichter sei einer von denen, die immer an den guten Ausgang der Ideen glaubten. „An dieser Stelle kann es gar keinen anderen Namen geben.“

Herrmann brachte am 17. August 2002 eine gastronomische Oase ins Städtchen; das Restaurant gilt als besonders familienfreundlich. Sonntags ist Brunch, das kommt an, gerade bei den zugezogenen Kleinfamilien. „Dieses Viertel ist jetzt erwacht“, sagt der Wirt, der nun in der Küche Regie führt. „Das Umfeld verändert sich lebhaft.“ Die alten Villen haben neue, farbige Fassaden und andere Bewohner. Drumherum ein buntes Bau-Allerlei „vom Fertig- bis zum Ökohaus und zur Holzschachtel“. Botschaften siedelten sich an, Chinas Handelsvertretung bezog die weiße Villa, in der einst bei DDR-Wahlen das Politbüro zur Zettelabgabe mit „Tschaikas“ und Volvos vorgefahren kam.

Andreas Herrmann freut sich, dass sein Restaurant auch jene Prominenz anzieht, die schon immer die kultivierte Lockerheit und den Charme der grünen Vorstadt schätzte. „Diese Leute kommen her, weil sie hier nicht angestarrt und als etwas Besonderes angesehen werden“, sagt der Majakowski-Chef, bei dem nicht nur die Schauspielerin Jasmin Tabatabai als neue Nachbarin einkehrt, sondern auch Maria Schrader, Henry Hübchen, das Schriftsteller-Ehepaar Wolf, Christoph Hein, Gregor Gysi und Jürgen Trittin. TV-Moderator Jörg Thadeusz feierte gerade mit seiner Film-Crew bei ihm. Hier verbiegt und verbeugt sich keiner mehr untertänig vor dem, was man Promi nennt. „Wir machen einen ehrlichen Job.“

Für Andreas Herrmann dreht sich das Leben um sein Restaurant und die Familie. Erlebt er Pankows Wandel? Am Rande. Er lobt die Schulen ringsum, die Musikerziehung, das musische Klima. Und er sagt: „Es gibt mehrere Pankows. Die Altstadt, den Kern und unser Gartenstädtchen.“ Dessen Bewohner gehörten neuerdings zum „klassischen Jet zwischen 30 und 45 Jahren“. Was das heißt? „Die haben einen guten Job und damit auch etwas Geld.“ Neuer Geist, neue Geister. Lothar Heinke

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