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Eine Teilnehmerin der Demonstration "Ein Europa für alle" am vergangenen Wochenende auf dem Alexanderplatz in Berlin.

© imago images / Emmanuele Contini

Die doppelte Entscheidung: So erleben EU-Ausländer die Europawahl in Berlin

Nur rund 7 Prozent der hier lebenden EU-Ausländer haben sich dafür entschieden, auch in Deutschland zu wählen. Warum eigentlich? Vier erzählen ihre Geschichte.

Von Laura Hofmann

Rund 256.000 ausländische EU-Bürgerinnen und EU-Bürger leben in Berlin. Nur 180.57 von ihnen haben sich dafür entschieden, ihr Wahlrecht bei der Europawahl am 26. Mai hier auszuüben und die deutschen Abgeordneten zu wählen. Im Verhältnis betrachtet sind das genauso wenige wie bei der vergangenen Europawahl 2014. Damals waren von rund 200.500 EU-Staatsangehörigen 14.312 in einem Berliner Wahlverzeichnis registriert, was einer Quote von 7,1 Prozent entspricht. Ausländische Unionsbürgerinnen und -bürger können sich entscheiden, ob sie ihre Stimme in ihrem Herkunftsland abgeben oder in dem EU-Land, in dem sie aktuell gemeldet sind. Traditionell wählen die allermeisten in der alten Heimat oder verzichten ganz auf ihr Wahlrecht.

Die größte Gruppe der EU-Ausländer, die in Berlin wählen, bilden mit 2647 Registrierten die Italiener. Danach kommen die Franzosen (2562 Personen) und die polnischen Staatsbürger (2384 Personen). Die kleinsten Gruppen kommen mit 34 registrierten Wählern aus Zypern, mit 32 aus Estland und mit nur 18 Personen aus Malta. Von den rund 15.500 Britinnen und Briten in der Stadt stehen 838 hier im Wählerverzeichnis. Das sind mit nur fünf Prozent noch weniger als im Durchschnitt. Das hängt vermutlich auch damit zusammen, dass erst am 7. Mai offiziell feststand, dass die Briten tatsächlich noch an der EU-Wahl teilnehmen.

Im Bezirk Mitte wählen die meisten ausländischen Unionsbürger, nämlich 2889. Es folgen Friedrichshain-Kreuzberg (2353 Registrierte) und Pankow (2284). Die kleinsten Zahlen an Ausländern finden sich in den Wählerverzeichnissen von Treptow-Köpenick (527), Lichtenberg (511) und Marzahn-Hellersdorf (210).

Berlins Bevölkerung ist in den vergangenen Jahren zwar stark gewachsen. Die Zahl der Wahlberechtigten ist allerdings gesunken. Bei den ersten fünf Europawahlen nach dem Mauerfall durften noch 72 bis 73 Prozent der Berliner teilnehmen. Bei dieser EU-Wahl ist die Quote der Wahlberechtigten dagegen auf 67 Prozent gesunken, was mit der starken Zunahme des Ausländeranteils, besonders von außerhalb der Europäischen Union, zusammenhängt.

Wie blicken Berliner aus dem EU-Ausland auf diese Europawahl? Warum haben sie sich für eine Wahl in Deutschland oder in ihrem Herkunftsland entschieden? Wir haben vier von ihnen befragt.

Adam Kerpel-Fronius aus Ungarn

Adam Kerpel-Fronius, 44, Ungarn, Historiker
Adam Kerpel-Fronius, 44, Ungarn, Historiker

© privat

Ich könnte zwar auch für eine deutsche Partei stimmen, aber mir ist die Wahl in Ungarn viel wichtiger, weil es auf jede Stimme gegen die illiberale Demokratie von Viktor Orbán ankommt. Auch wenn seine Partei Fidesz die Wahl sicher gewinnen wird, ist es wichtig zu zeigen, dass es Ungarn gibt, die nicht auf seiner Seite sind. In Deutschland ist diese EU-Wahl keine Richtungswahl wie in Ungarn. Ich halte es sowieso für eine bedauernswerte Entwicklung, dass das Bundesverfassungsgericht die Drei-Prozent-Hürde bei der Europawahl gekippt hat. So verliert die Wahl an Bedeutung, jede Landtagswahl ist spannender.

In Ungarn dagegen geht es darum, zu sehen, ob es überhaupt noch eine Opposition gibt. Deswegen animiere ich auch andere Ungarn, die in Berlin leben, ungarische Parteien zu wählen. Hier in der Stadt haben sich mehr als 900 Ungarn für die Wahl in der Botschaft registriert, das ist gar nicht so wenig. Damit ist Berlin eine der führenden Städte. Hier leben viele politisch interessierte Landsleute von mir. Viele von ihnen freuen sich aber auch über die Möglichkeit, eine deutsche Partei wählen zu können, mit der sie sich identifizieren.

Interessanterweise ist das Ansehen der EU in Ungarn sogar positiver als in Deutschland. Auch wenn Orbán immer gegen die – wie er sagt – liberale Elite in Brüssel hetzt, die Ungarn vorschreiben will, wie es mit Migration umzugehen habe. Ungarn ist extrem von der EU abhängig und traurigerweise beruht das ganze System Orbáns darauf, EU-Gelder zu veruntreuen. Die Korruption ist inzwischen so frappierend, das kann man sich kaum vorstellen. Die Europawahl ist für Orbán entscheidend, weil er seine Machtbasis in Europa stärken und damit die EVP erpressen will. Wer sich in Ungarn umsieht, entdeckt kaum Wahlplakate der Opposition. Auch in den Medien wurde ihr kaum Sendeplatz eingeräumt. Die Wahlen sind also frei, aber überhaupt nicht fair.

Manuela Zuniga aus Bulgarien

Manuela Zuniga, 32, Bulgarien, Sozialarbeiterin
Manuela Zuniga, 32, Bulgarien, Sozialarbeiterin

© privat

Ich habe mich entschieden, für Bulgarien zu wählen. Eigentlich war das nicht mein Plan, ich lebe schon seit 14 Jahren in Berlin, aber dann habe ich erfahren, dass sich zu wenige Bulgaren für die Wahl registriert haben, deswegen hätten weniger bulgarische Wahllokale in Deutschland geöffnet. Die meisten wussten das gar nicht, weil es wenige Informationen dazu gab. Leider hat sich die Lage in Bulgarien seit dem EU-Eintritt 2007 eher verschlechtert. Das ist aber nicht wirklich die Schuld der Union. Die Zivilgesellschaft ist schwach und die Korruption nimmt ständig zu. Auch EU-Gelder werden veruntreut. Die EU müsste die Korruption in Ost-Europa viel stärker kontrollieren.

Auch ein Problem für Bulgarien ist der Brain-Drain: Gut ausgebildete junge Menschen verlassen das Land, weil sie in anderen Städten Europas bessere Chancen haben. Diese Auswanderung ist natürlich durch die Freizügigkeit in der EU einfacher geworden. Die Migration lässt sich nur schwer aufhalten, ein EU-weiter Mindestlohn, angepasst an die einzelnen Länder, würde aber helfen. Viele Bulgaren studieren zum Beispiel in ihrem Herkunftsland Medizin, gehen dann aber für ihre Spezialisierung nach Deutschland, weil dort besser bezahlt wird. Die EU ist auch deshalb nicht überall in Bulgarien beliebt, etwa in der Provinz und bei älteren Leuten gibt es viel Skepsis. Auch gibt es die Erfahrung, dass das kleine arme Land bei einigen Entscheidungen der EU benachteiligt wurde.

Hermance Grémion aus Frankreich

Hermance Grémion, 36, Frankreich, Marketingmanagerin bei einem Filmverleih
Hermance Grémion, 36, Frankreich, Marketingmanagerin bei einem Filmverleih

© privat

Ich bin Französin und Deutsche. Vor drei Jahren habe ich mich einbürgern lassen, weil es mir wichtig war, an der Bundestagswahl teilnehmen zu können. Schließlich lebe ich schon seit 14 Jahren in Berlin. Für die Europawahl habe ich dann zwei Wahlbenachrichtigungen bekommen, sowohl als Deutsche vom Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg als auch als Französin von der Botschaft.

Das Problem sehe ich gar nicht so sehr darin, dass ich theoretisch zweimal wählen könnte – ich weiß ja, dass ich mich dadurch strafbar machen würde – sondern darin, dass ich so oder so die Nichtwählerquote steigen lassen werde: Wenn ich als Deutsche wähle, werde ich bei den Franzosen als Nichtwählerin registriert und umgekehrt genauso, obwohl ich ja als Europäerin meine Stimme abgegeben haben werde. Und der Fall tritt nicht nur bei Bürgern mit doppelter Staatsbürgerschaft auf.

Eine enge Freundin, die Französin ist und auch in Berlin lebt, hat ebenfalls zwei Wahlbenachrichtigungen erhalten. Mir wurde schließlich auf Nachfrage gesagt, dass ich nicht in der französischen Botschaft wählen kann, wenn ich bereits in einer deutschen Wahlliste registriert bin. Dabei hätte ich eigentlich gerne eine französische Partei gewählt. Denn es ist gut möglich, dass der Rassemblement National, die rechtspopulistische und europafeindliche Partei von Marine Le Pen, die meisten Stimmen bekommt. Das macht mir schon Sorgen.

Jon Worth aus Großbritannien

Jon Worth, 38, Großbritannien, Berater.
Jon Worth, 38, Großbritannien, Berater.

© privat

Ich wähle das EU-Parlament im Bergmannkiez und stimme für eine deutsche Partei, weil ich hier lebe und meine Zukunft hier ist. Ich finde allerdings, dass es keine Partei gibt, die wirklich die vielen EU-Ausländer in Berlin anspricht. Ich wohne schon seit ein paar Jahren hier und spreche Deutsch, aber viele tun das nicht und trotzdem gibt es keine Wahlplakate auf Englisch oder anderen EU-Sprachen.

Die Europäische Union spielt in meinem Leben eine sehr große Rolle, ich habe schon in einigen Ländern gelebt und gearbeitet: Belgien, Dänemark, jetzt Deutschland. Ich würde sagen: Man weiß nicht, was man hat, bis man es verliert: Nach dem Brexit brauchte ich plötzlich einen Aufenthaltstitel, um hier zu sein. Das war schon komisch. Ich habe dafür gestimmt, dass Großbritannien in der EU bleibt, aber ich habe auch verstanden, warum die Leute für den Brexit gestimmt haben: Sie haben Angst vor der Zukunft. Eigentlich war es weniger eine Stimme gegen die EU als vielmehr gegen die Londoner Elite.

Früher habe ich mal gedacht, es wäre besser für die Europäische Union, wenn Großbritannien sie verlässt. Aber jetzt glaube ich, die EU hat mehr Gutes für das Land getan, als das Land Schlechtes für die EU getan hat. Was mich wirklich nervt, ist, dass niemand weiß, wie es nach dem Brexit für die Briten im Ausland weitergeht. Und wer weiß, wann es dazu überhaupt kommt? Ich habe aber Glück, weil ich einen unbefristeten Aufenthaltstitel habe. Berlin ist das einzige Bundesland, das solche Titel jetzt schon vergibt für Menschen, die länger als fünf Jahre in Deutschland leben.

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