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Berlin: Die Frühtrinker

Anna, Diplompädagogin, geriet an einen Mann, der sie prügelte. Jetzt will sie vor allem eines: in Ruhe gelassen werden. Erhard, pensionierter Maler, sucht amüsante Gesellschaft – ab und zu. Ronny, arbeitsloser Glaser, hat Zoff mit seiner Frau. Schuld, sagt er, sei die Schwiegermutter. Alle drei haben einen Fluchtpunkt: die Kneipe. Morgens schon.

Carola macht immer die Morgenschicht, von sechs bis zwei. Morgens ist es angenehm ruhig im „Passierscheineck“. Am Tresen dämmern die übernächtigten Trinker langsam weg – bis Carola sie weckt und nach Hause schickt. Danach ist sie manchmal ganz allein, macht sauber oder lehnt sich ans Buffet und raucht eine von ihren langen Marlboros. Morgens ist das 24-Stunden-Lokal Passierscheineck ein zeitloser Ort, eine bewegungslose Parallelwelt. Draußen, auf der Weddinger Schulstraße, hasten die Menschen zur U-Bahn, die Autos fahren ostwärts oder westwärts.

Drinnen gibt es keine Richtung, weil es kein Ziel gibt.

Anna, so um die 40, sitzt immer hinten am Fenster und schaut mit ihren großen, stechenden Augen durch die Gardine auf das Leben. Zwischen Zeigefinger und Daumen hält sie eine Zigarette, selbst gedreht und filterlos. Manchmal nippt sie an ihrer Schultheiss-Molle. Bier schmeckt ihr nicht, ist aber gut für die Nerven.

Deshalb sitzt sie auch morgens in der Kneipe. „Hier lässt man mich in Frieden.“ Bei ihrer Bekannten, wo sie derzeit wohnt, läuft den ganzen Tag über der Fernseher, sagt Anna. Genau genommen läuft nur noch das batteriegetriebene Radio, weil die Bewag den Strom abgestellt hat.

Früher brauchte sie das alles nicht: das Nikotin, den Alkohol und die Kneipe. Früher studierte sie Diplompädagogik. Dann geriet sie an einen Sektenführer, unterrichtete „Life-skills for the new age“, nahm Drogen, kam in die Psychiatrie, lebte auf der Straße und lernte schließlich diesen Araber kennen, der sie prügelte und immer wieder in ihre Wohnung einbrach. Deshalb schläft sie seit zwei Jahren bei Freunden.

„Der Araber hat mir den letzten Abschuss gegeben.“ Neulich ist auch noch ihr Zwergkaninchen „Hasilein“ gestorben, „wahrscheinlich wegen seelischer Verwahrlosung“. Anna dreht sich die nächste Zigarette.

„Wollen Sie noch mehr hören?“ Schlagermusik durchbricht den Kneipenfrieden. Für zwei Euro bekommt man bei Carola acht Heile-Welt-Schnulzen, vom „Blauen Enzian“ bis „Eviva Espania“. Erhard Bieritz will sich amüsieren. „Ich hab’ Kuchen mitgebracht.“ So macht er das immer, wenn er Carola besucht, seine „stille Liebe“. Erst zum Arzt, dann in die Apotheke, weiter zum Bäcker und schließlich ins Passierscheineck. Hier bleibt er dann, bis ihn am Nachmittag jemand abholt. Erhard wird bald 70, ist schlecht zu Fuß und fährt deshalb Rollstuhl. Was er früher gemacht hat? „Wohnungsgestaltungsingenieur.“ Wie bitte? „Ick war Maler.“ Erhard grient mit vollem Einsatz seiner Gesichtsmuskeln, bestellt zwei Bier, zwei Korn und erzählt erstmal einen Witz: „Kommt ein alter Mann ins Reisebüro, will eine Kreuzfahrt buchen, für sich und seine Frau. Fragt der Verkäufer: Getrennte Betten? Nee, sagt der Mann: Getrennte Schiffe.“ Den erzählt er gern. „Bin ja Single, seit 27 Jahren glücklich geschieden.“ Erhard geht nur ab und zu in die Kneipe – meistens trinkt er zuhause. Immer mit Kumpels, damit das Amüsement nicht in Einsamkeit umschlägt.

Ronny schlendert durch die offene Tür und setzt sich gleich ans Tresenende. Er hat „keenen festen Job“ und „Streit mit der Ollen“. Da hilft nur eins: Kneipe. „Ick bin doch keen Zickenbändiger.“ Urheber des Unheils sei eigentlich seine Schwiegermutter, der vor kurzem das Bein amputiert wurde. „Da ham wir se bei uns uffjenommen.“ Dann starb noch der geschiedene Mann seiner Frau. Wurde eben alles zu viel und „total nervig“. Also: Kneipe.

Ronny ist Glaser von Beruf, hat schon wertvolle Bleiglasfenster gesetzt, damals in der DDR. Als sein Staat am Verglühen war, dachte er: Die Kohle kann man auch leichter verdienen. In der Uni Greifswald ließ er rund 40 Gemälde mitgehen, ein großes Ding. Leider wurde er anderthalb Jahre später geschnappt. „Vier zwei“ bekam er aufgebrummt – vier Jahre und zwei Monate. Vor kurzem musste Ronny noch mal für zwei Monate im „offenen Vollzug“ nachsitzen. „Wegen acht Euro.“ Die vergaß er zu bezahlen, als er ein Edeka-Geschäft mit Rasierer und Schokolade verließ. Nun lebt er von Sozialhilfe. Um diese Zeit soll er für seine Olle eigentlich einkaufen gehen. Kurz vor Mittag lässt Ronny zwei Euro für die Musikbox springen. Am nächsten Morgen sind Erhard und Ronny nicht da. Carola macht sauber. Anna sitzt wieder am Fenster und schaut durch die Gardine aufs Leben.

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