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Berlin: Die jungen Türken Berlins sind anders als viele glauben

Fast 60 Prozent wollen einen deutschen Paß / Eine RepräsentativumfrageVON REGINA MÖNCH BERLIN.Nach zwei aufsehenerregenden Berichten - der sogenannten Heitmeyer-Studie und dem Spiegel-Artikel "Zeitbomben in Vorstädten" - gab Berlins Ausländerbeauftragte Barbara John eine Studie in Auftrag, um zu erfragen, was türkische Jugendliche in unserer Stadt denken, wie sie leben wollen.

Fast 60 Prozent wollen einen deutschen Paß / Eine RepräsentativumfrageVON REGINA MÖNCH BERLIN.Nach zwei aufsehenerregenden Berichten - der sogenannten Heitmeyer-Studie und dem Spiegel-Artikel "Zeitbomben in Vorstädten" - gab Berlins Ausländerbeauftragte Barbara John eine Studie in Auftrag, um zu erfragen, was türkische Jugendliche in unserer Stadt denken, wie sie leben wollen.Das Ergebnis ist überraschend anders.Trotzige Selbstbehauptung im traditionellen Sinn, Radikalisierung und wachsende Gewaltbereitschaft - die Grundthesen der beiden anderen Einschätzungen - bestätigten sich nicht.Vielmehr lehnen über 96 Prozent der Befragten gewalttätige Gruppen ab.Nur 8,7 Prozent halten Muslime für die besseren Menschen, über 88 Prozent aber setzen auf Toleranz gegenüber Andersgläubigen.Und wie bei deutschen ist auch bei türkischen Großstadtjugendlichen ein Säkularisierungsprozeß zu beobachten. Verglichen mit Umfragen von 1989 und 1991 sank der Anteil junger Türken, die ein sehr enges Verhältnis zum Islam angaben, von fast 19 auf etwa 11 Prozent.Und fast 60 Prozent bezeichnen inzwischen das Verhältnis zu ihrer Religion als eher distanziert. Der Alltag wird stattdessen immer mehr von Freizeitgewohnheiten und Bildungsabschlüssen bestimmt.Marginal ist die Mitgliedschaft in Folklore- (9 %) oder Moscheevereinen (1,7 %) - Tendenz sinkend.Dafür gehört jeder vierte Jugendliche zu einem Sportclub."Normal für eine moderne Wohlstandsgesellschaft", sagt Barbara John.60 Prozent der über tausend vom "In-Trend"-Institut befragten türkischen Jugendlichen wurden in Berlin geboren.Etwa 25 000 sind wie sie 16 bis 25 Jahre alt.Über elf Prozent der Befragten haben Abitur, über ein Viertel einen Realschulabschluß; ein Drittel geht noch zur Schule. Die nationale Herkunft ist für gut die Hälfte nicht mehr so wichtig.Die Ausländerbeauftragte sieht auch darin ein Signal, daß alte Bindungen ihre prägende Kraft verlieren, ohne abrupt aufgegeben zu werden.Die deutsche Staatsbürgerschaft wollten 1991 noch 73,8 Prozent nur annehmen, wenn sie ihre türkische behalten durften.Auch, weiljunge Männer damals wegen des Wehrdienstes nicht entlassen wurden.Heute ist das möglich - was mehr als die Hälfte der Befragten nicht wußte.Fast 60 Prozent votierten jetzt für den deutschen Paß, auf den türkischen würden sie verzichten.Bei den jungen Türkinnen stieg die Einbürgerungsbereitschaft zwischen 1985 (16 Prozent) und 1997 sogar auf 63 Prozent. Obwohl sich mehr als 90 Prozent der Befragten in Berlin sehr oder einigermaßen wohl fühlen, erwägt immer noch jeder fünfte, Deutschland zu verlassen - mehr Männer als Frauen.Positiv verändert hat sich die Einstellung zu deutschen Jugendlichen.Ein Drittel der türkischen Jugendlichen gibt jetzt an, daß keine oder nur geringe Unterschiede zu den Deutschen zu sehen seien.Vor sechs Jahren waren es nur 13 Prozent.Nicht einmal mehr 10 Prozent kritisieren an jungen Deutschen ausländerfeindliche Einstellungen, 20 Prozent waren es 1991.Keine Erfahrungen mit Ausländerfeindlichkeit gaben jetzt 81 (1991: 62) Prozent an."Eine erfreuliche Entwicklung", sagt Barbara John und weist darauf hin, daß 18,3 Prozent auch meinen, nun besser mit den deutschen Nachbarn auszukommen (1991: 2,4).Waren 1991 Ängste, in den Ostteil zu fahren, noch weit verbreitet, hat sich das entspannt.Deutlich zeigt die Studie einen Trend zu gesamtstädtischer Normalität.Der Anteil türkischer Jugendlicher, die im Osten zur Schule gehen oder dort arbeiten, hat sich in den letzten sechs Jahren vervierfacht.Das Berliner Umland, wo sie - entsprechend der Realität - mehr Ausländerfeindlichkeit vermuten, können sich 18 Prozent der Befragten als Arbeitsort vorstellen, noch mal 31 Prozent würden dort auch leben wollen. Wachsende Orientierung an den hiesigen Verhältnissen hat die Ausländerbeauftragte auch bei der Familiengründung ausgemacht.Es wird später geheiratet und deutlich mehr Frauen (80 Prozent) als Männer (46 Prozent) wählen einen Partner, der wie sie hier aufgewachsen ist.Allerdings, schränkt John ein, spiele da neben dem Wunsch, eine türkisch erzogene Ehefrau zu finden auch ein banaler Grund eine Rolle: Es gäbe hier einfach mehr Männer als Frauen im heiratsfähigen Alter. Vergleicht man die Repräsentativumfragen von 1991 und 1997, so zeigen sie nicht nur Fortschritte in der Integration.Die Antworten spiegeln auch klar die veränderten wirtschaftlichen Verhältnisse wider: Junge Türken rechnen sich weniger Chancen aus, einen Ausbildungsplatz oder Arbeit zu finden.Barbara John sieht darin ein Motiv, warum fast 60 Prozent angaben, sie wollten am liebsten selbständige Unternehmer werden.Dazu seien, verschwindend weniger junge Deutsche bereit, sagt John.Die Umfrage zeige auch, daß langsam mehr türkische Schulabgänger an die Universitäten streben.Mit sieben Prozent noch eine Minderheit, die sich aber seit 1991 fast verdoppelt hat. Barbara John sieht in der Umfrage bestätigt, daß sich großstädtische Jugendliche aus türkischen Familien weniger von deutschen Altersgefährten unterscheiden als allgemein angenommen."Wenn sie die Wahl haben, entscheiden sie sich nicht für den Rückzug in ein kulturelles Ghetto." Sie hätten trotzdem andere Probleme, betont sie, besonders in der Frage der Staatsbürgerschaft und auf dem Arbeitsmarkt."Hier müssen ihnen in ihrer Stadt Zukunftsperspektiven eröffnet werden."

REGINA MÖNCH

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