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Carsten W. betrieb bis Herbst vergangenen Jahres einen Tierfutterladen in Zehlendorf. Er ist der mutmaßliche Entführer des Mädchens aus Kleinmachnow.

© Thilo Rückeis

Die Kindesentführung von Kleinmachnow: Wie in einem schlechten Krimi

Warum wurde der Kleinmachnower Familienvater und Geschäftsmann Carsten W. zum Kindesentführer? Stationen eines Abstiegs.

Falsche Autokennzeichen anschrauben? Nicht mal das traut Ingo R. seinem Chef zu. Alles andere schon gar nicht. Eine Kindesentführung mit Lösegeldforderung? Abstrus. Unwirklich. „Der Carsten?“, fragt ein Nachbar sich selbst und schüttelt leicht den Kopf. „Der hat gegrillt, mit den Kindern gespielt.“ An ihn, diesen „gutmütigen und hilfsbereiten Menschen“, hätte er zuletzt gedacht. Und doch ist dieser liebe, gemütliche, unscheinbare Nachbar nun ein Mensch unter dringendem Tatverdacht, ein mutmaßlicher Krimineller. Die überstürzt geplante und dilettantisch ausgeführte Tat hatte er der Polizei nach der Festnahme sofort gestanden. Nun wartet er in der Justizvollzugsanstalt Brandenburg auf seinen Prozess.

Carsten W., 44 Jahre, rundlich, freundlich, dreifacher Familienvater. So kennen ihn die Zehlendorfer und Kleinmachnower, denen er Tierfutter verkaufte, in seinem Ladengeschäft oder als Lieferant an der Haustür. Als er das Geschäft aufgab, dachten viele: Ist wohl nicht gelaufen. Die Geschäftsstraße hat ohnehin mit kargen Umsätzen zu kämpfen. Häufig stehen Läden leer. Doch Carsten W. ließ sich seine Enttäuschung nicht anmerken. Im Gegenteil: Er habe von vornherein geplant, den Laden nur so lange zu halten, bis sein Tierfutter-Lieferservice Gewinne abwirft.

Ingo R. bedient in der Confiserie, die Carsten W. nach einem Jahr Leerstand übernommen hatte. Ab und zu kommt ein Kunde in den Laden, lässt sich über Herkunft von Schokoladen und Pralinen belehren und kauft eine Kleinigkeit. Er arbeite jetzt ohne Bezahlung, sagt R., wolle das Geschäft aber gerne weiterführen, weil er glaubt, dass es sich tragen könne. Von Schulden, die Carsten W. laut Polizei angehäuft hatte, wisse er nichts. „Ich halte Herrn W. für einen supertollen Geschäftsmann und superintelligent.“ Mehr möchte er nicht sagen. Nur noch eins: „Er hatte mir gesagt, er werde den Laden wohl nicht halten können.“

Es gab bessere Zeiten im Leben von Carsten W. In den neunziger Jahren war er einer der Spitzenspieler im exklusiven Golfclub Wannsee. Sein Handicap 3 war damals für Amateure ein respektables Ergebnis. Hätte er härter trainiert und mehr Erfolgswillen gezeigt, wäre vielleicht eine Profi-Laufbahn möglich gewesen. 1999 holte W. mit der Clubmannschaft die Deutsche Meisterschaft. Auch seine Frau lernte er im Golfclub kennen.

„Er war tagtäglich im Club, galt schon als eine Institution“, erinnert sich eine Golferin, die ihn für ein wichtiges Turnier als Caddy gewinnen konnte. Aber er war auch einer, „der eher einen Schritt langsamer ging als zu schnell, ein absoluter Gemütsmensch“, sagt ein Vereinskollege. Auch der Geschäftsführer des Golfverbandes Berlin-Brandenburg, Roderich Wegener-Wenzel, kennt Carsten W. als Golftalent. Allerdings sei er „die Dinge nicht akribisch angegangen“. Kurz: „Ein Schluffi.“

Jura hatte er studiert, brauchte aber einige zusätzliche Semester bis zum 1. Staatsexamen. Danach verfolgte er seine Juristenkarriere nicht weiter, nahm stattdessen einen Job als Clubmanager im Golfclub Fleesensee an. Perry Einfeldt, der damals mit ihm zusammenarbeitete, beschreibt ihn als kommunikativ, als einen, der auf Leute zugehen kann. „Gäste begrüßen, in der ersten Reihe stehen, das konnte er gut.“ „Ein Schwätzer“, urteilt eine Bekannte. Aber einer mit vielen Ideen. Eine Driving Range für Kinder ließ er sich einfallen. Als Carsten W. das Angebot erhielt, eine Golfanlage auf der Insel Kreta aufzubauen, kündigte er und brach „ganz euphorisch“ nach Griechenland auf, erzählt Einfeldt.

W. spricht fließend Englisch. Seine Eltern arbeiteten als Entwicklungshelfer in afrikanischen Ländern. Geboren wurde er in Tansania, nicht in Südafrika, wie es zunächst hieß. Eigentlich war W. für den Job in Griechenland qualifiziert, aber als die Golftouristen nicht so zahlreich wie geplant die neue Anlage bespielten, endete sein Engagement. Er kehrte zurück nach Berlin, doch die alten Beziehungen zu den Wannsee-Golfern waren abgebrochen.

Carsten W. fängt noch mal ganz von vorn an. Er startet verschiedene Versuche, ein Unternehmen aufzubauen. Ein Rabattheft für Touristen und eine Vermittlungsagentur für vereinslose Golfspieler. Der Erfolg bleibt aus. Schließlich versucht er es mit einem Laden für Tierfutter. Das Geschäft liegt in der Nähe seiner Wohnung, so kann er sich besser um die Kinder kümmern, während seine Frau arbeitet. Er holt sie von der Schule ab und geht mit ihnen zum Schwimmen. Geschäftlich läuft es bescheiden, privat geht es bergab. Seine Frau trennt sich von ihm. Doch Carsten W. hält die Fassade der Normalität weiter aufrecht. Für einen Nachbarn übernimmt er private Kurierfahrten, will kein Geld dafür. Er fahre ja gerne Auto, sagt er.

Er brauchte Hilfe, hatte aber nie gelernt, danach zu fragen. „Er sagte immer, alles sei okay, hat sich wohl in sich verkrochen“, meint eine Bekannte. Es fiel auf, dass er sich vernachlässigte, nicht mehr auf seine Kleidung achtete. Zuletzt habe er öfter die Wohnung gewechselt, heißt es bei der Polizei. Offensichtlich, weil Vollstreckungsmaßnahmen gegen ihn liefen. 60 000 Euro Schulden sollte er zurückzahlen, genau diese Summe schrieb er auf das Erpresserschreiben. Eine Verzweiflungstat. Carsten W. verlor die Kontrolle über sein Leben, wagte nicht, sein Scheitern einzugestehen. Und fasste irgendwann einen aberwitzigen Plan.

Und fast jeder, der ihn kennt, empfindet keine Wut, sondern Mitleid, erzählt die Buchhändlerin, bei der er manchmal Schulbücher bestellte oder Thriller kaufte, auf Englisch. Keine wirklich guten Thriller, sagt sie.

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