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Berlin: Die kleinen Unterschiede aus der DDR-Zeit werden nun zu großen Differenzen

Ossis und Wessis, zehn Jahre nach der Wende: Wir haben uns unsere Geschichten erzählt, wir haben uns zusammen- und auseinander gesetzt. Und doch gibt es ein "Wir" noch immer nicht.

Ossis und Wessis, zehn Jahre nach der Wende: Wir haben uns unsere Geschichten erzählt, wir haben uns zusammen- und auseinander gesetzt. Und doch gibt es ein "Wir" noch immer nicht. Die einen sagen: na und? - die anderen rätseln: warum? In diesen Wochen gehen Tagesspiegel-Autorinnen und Autoren aus beiden Teilen Berlins der Frage nach, warum partout nicht alles zusammenwachsen will, was offiziell doch zusammengehört.

Derzeit ruft oft ein Freund bei mir an. Er wohnt momentan in Australien. Ziemlich weit weg, könnte man meinen. Doch was er sagt, klingt so, als wohne er noch immer hier in Kreuzberg. "Jana!", dringt es durch den Hörer: "Wir haben alle in einer Todeszelle gelebt." Mit der Todeszelle meint er die DDR. Das Land aus dem er und ich stammen. Es geht weiter über die Mauertoten bis hin zu der Feststellung, dass wir einmal von Dummen regiert wurden. Das alles trägt er so eindringlich vor, dass ich es manchmal zwei Stunden lang nicht schaffe, ihn zu unterbrechen.

Seine Geschichte macht den Hass verständlich. Sein Vater war ein hoher Funktionär bei der Volkspolizei, der Freund wurde abtrünnig und ist 1986 nach West-Berlin ausgereist. Sohn und Frau mussten in der DDR zurückbleiben und durften erst zwei Jahre später hinterher. "Freigekauft für 70 000 Mark", schreit er in den Hörer. Er musste nach Australien gehen, um seine Geschichte hinter sich zu lassen. Doch auch dort gelingt es ihm nicht ganz. Seine Vergangenheit verfolgt ihn noch immer, ja es wird eher schlimmer.

Nach diesen Telefonaten sitze ich am Schreibtisch und bin ratlos. Der Freund erinnert mich daran, wie ich mich selbst in der DDR gefühlt habe - von der Welt abgeschnitten. Ich kann mich noch gut erinnern - an die leeren Straßen, meine Geschichtslehrerin, die Stalin im Unterricht auslassen wollte, und meine Melancholie, wenn ich am Bahnhof Friedrichstraße oder in Bulgarien zurückbleiben musste, während die Westler weiterzogen in ihre fremde Welt.

Heute kommt es mir manchmal so vor, als hätten meine Landsleute alles vergessen - die ständige Gängelei von Vorgesetzten aller Art, das absolut vorgeplante Leben, dass jegliche Spontanität ausschloss, und das stundenlange Anstehen nach einer einzigen Flasche Ketchup. Immer mehr wählen wieder die PDS, und das Gefühl: "Es war doch alles gar nicht so schlecht", scheint sich zu verbreiten. Wenn ich das höre, schiebt sich der Freund in Australien in mein Gedächtnis. Deshalb macht es mich auch fassungslos, wenn eine Ostkollegin kühl über jemanden schreibt, der in Bautzen im Knast gesessen hat und offensichtlich daran zerbrochen ist.

Zehn Jahre nach dem Mauerfall ist ein anderer Kampf ausgebrochen - der Kampf um die Deutungshoheit über die DDR-Vergangenheit unter den Ostdeutschen. Wer hat Recht im Nachhinein? War nun alles schlimm oder alles gut oder ein bisschen von beidem? Alle Seiten sind dabei so verhärtet, dass Dialoge schwierig geworden sind. Die unversöhnlichen Bürgerrechtler beharren auf ihrem Weltbild von der DDR-Schreckensherrschaft und stehen damit gegen die große Mehrheit, die das nie so empfunden hat, weil sie kaum angeeckt ist. Bei ihnen allen bestimmt die Vergangenheit die Gegenwart.

Das Prekäre ist nun, dass dieser Streit oder Unterschied zwischen den Ostlern bei den Westlern kaum wahrgenommen, geschweige denn verstanden wird. Wir haben aber sehr unterschiedliche Biographien - angefangen von denen, die in Bautzen gesessen haben, über die, die Arbeit hatten und es sich in der DDR ganz gemütlich gemacht hatten, bis hin zu den vielen verschiedenen Funktionsträgern. Auch in der DDR gab es trotz ihrer gleichmacherischen Erziehung und Bildung scharfe Differenzen - es gab Gläubige, weniger Gläubige und Nicht-Gläubige. Diese alten Differenzen waren in den Wendewirren eine Weile nicht so präsent und treten dafür jetzt um so stärker wieder in den Vordergrund. Weil heute niemand mehr so genau weiß, wie es war - alles nur Erinnerungen und persönliche Erlebnisse. Und wie soll man die richtig bewerten?

Harald Martenstein schrieb hier vor kurzem, wir Ostdeutschen seien so verdammt schwer zu durchschauen, und dass er unsere Streitereien nicht verstehe, weil er eben ein Westdeutscher sei. Oft ist Nichtverstehen auch ein Ausdruck von Desinteresse: Ich verstehe Euch Ostler sowieso nicht, also frage ich lieber erst gar nicht nach. Das Problem ist, dass die Ostdeutschen im Westen als homogene Masse angesehen werden - in ihrer Gesamtheit eben so fremd wie eben Japaner. Aber es gibt sie nicht: die Ostdeutschen. Das ist nur ein Synonym für eine Ansammlung von Menschen, die in der selben Gegend geboren sind, aus sehr verschiedenen Hintergründen kommen und sich untereinander überhaupt nicht einig sind.

Vor einiger Zeit war ich in der alten Stasizentrale in der Normannenstraße, wo heute die Gauckbehörde archiviert und dokumentiert. Die Pressefrau, die schon Hunderte da hindurchgeführt hat, sagte mir vor kurzem: Der Unterschied zwischen Ostlern und Westlern bestehe darin, dass sich die Westler viel unbefangener, spielerischer durch die ehemalige Geheimdienstzentrale bewegten, während sie bei den Ostlern den bangen Blick bemerke, ob sie nicht auch hier irgendwo erfasst sein könnten - als Opfer oder Täter. Genau diese Unbefangenheit der Westler schafft manchmal eine Distanz zwischen Ost und West, als ob man meilenweit voneinander entfernt stünde und nur ab und zu ein Wort zum anderen herüber dringe.

Und genau das ist auch der Grund, warum es Westlern schwer fällt, die Konflikte zwischen den Ostlern zu verstehen. Sie waren in den entscheidenden Momenten einfach nicht dabei. Und fühlen sich von den oft sehr moralischen Streitereien der Ostler nicht betroffen. Deshalb können sie nicht wirklich nachempfinden, warum es Menschen gibt wie meinen Freund in Australien, der die DDR nur als furchtbare Missgeburt sehen kann, und andere, die sich dort ganz wohl gefühlt haben, behütet in ihrer kleinen Nische mit garantiertem Arbeitsplatz. Und warum es zwischen diesen beiden vorerst

keine Einigung geben kann.Den nächsten Beitrag schreibt Malte Lehming: über die unglaubliche Ähnlichkeit der Deutschen in Ost und West.

Jana Simon

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