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Suche nach dem Täter: Ein Polizeisprecher präsentierte 2011 ein Phantombild vom Maskenmann in Tarnkleidung.

© ddp images/Klaus-Dietmar Gabbert

Die komplette Exklusiv-Recherche: Neue Indizien und Widersprüche: Auf der Spur des Maskenmanns

Der spektakuläre Prozess um zwei Überfälle und eine Entführung bei Berlin steht vor dem Abschluss, doch womöglich muss er neu aufgerollt werden. Nach Tagesspiegel-Recherchen gibt es neben dem Angeklagten noch einen zweiten Verdächtigen: ein einstiger Polizist, dessen Spur nicht verfolgt wird.

Lebenslänglich fordert Staatsanwalt Jochen Westphal vor ein paar Tagen in seinem Plädoyer vor dem Landgericht Frankfurt (Oder). Kurz vor Prozessende steht ein hartes Urteil im Raum für den Angeklagten, Mario K. aus Berlin-Marzahn. Dem 47 Jahre alten Dachdecker wird versuchter Mord, versuchter Totschlag, gefährliche Körperverletzung und erpresserischer Menschenraub vorgeworfen. Seine mutmaßlichen Opfer stammen vorrangig aus wohlhabenden Unternehmerfamilien aus Berlin: Petra P., ihre Tochter Louisa P., Torsten H. und Stefan T.

Viele Verhandlungstage befasste sich das Gericht mit der Polizei

Der sogenannte Maskenmann-Fall ist einer der spektakulärsten Kriminalfälle – nicht nur wegen der Taten, sondern auch wegen der Ermittlungen der Polizei, mit denen sich das Gericht an der Hälfte der 53 Verhandlungstage befasste. Polizisten standen im Kreuzverhör, das Sittenbild einer Mordkommission entstand: Von Mobbing, Maulkorb und vorenthaltenen Ermittlungsergebnissen war die Rede. Vier Ermittler, die in alle Richtungen ermitteln wollten, wurden vom Fall abgezogen und teils versetzt. Einer hat sich selbst wegen Strafvereitelung im Amt angezeigt. Eine Hauptkommissarin quittierte freiwillig ihren Dienst und läuft lieber Streife. Warum fanden diese Polizisten kein Gehör? Was sollte nicht öffentlich werden? Erst im Gerichtssaal wurde jedenfalls bekannt, dass – nachdem die Ermittler den Angeklagten Mario K. im Visier hatten –, sogar ein Phantombild geändert wurde.

Das Plädoyer des Staatsanwalts besteht wie zu Beginn seiner Anklage nur aus Indizien. Beweise gegen Mario K. gab es von Anfang an nicht. Keine Tatwaffe, keine DNA, auch kein Motiv. „Doch es muss passen“, verteidigt Staatsanwalt Jochen Westphal immer wieder seine Indizienkette.

Die drei Taten binnen eineinhalb Jahren bestreitet Mario K. bis heute. „Ich bin der Falsche“, sagt er zu Prozessbeginn. Ist er es? Die Frage kann man stellen, wenn man einer anderen Spur nachgeht, die die Ermittler früh aufgaben. Der Tagesspiegel folgte der Spur und vielen offenen Fragen.

Die Opfer und die Taten

Petra P., das erste Opfer, ist eine getrennt lebende Ehefrau einer reichen Unternehmerfamilie, der etwa das Europa-Center in Berlin gehört. Am 22. August 2011 um 22.10 Uhr, zur immer gleichen Zeit, wenn sie ihre drei Hunde aus der Villa in Bad Saarow in den Garten ausführt, wird sie überfallen. Ein maskierter Mann kommt – so sagt sie es – leichtfüßig, im Zickzack angerannt und schlägt mit einem Knüppel mehrfach auf sie ein. Später erklärt Staatsanwalt Westphal: Die Behinderung des Angeklagten durch eine Arthrose würde den Ausfallschritt begründen. Was er nicht erwähnt, ist, dass Frau P. bei der Polizei etwas anderes vermutete. Der Täter könnte auch den Hunden ausgewichen sein, die ihr während des Überfalls zwischen den Beinen herumsprangen. Mit viel Kraft und Wucht, von oben, soll er geschlagen haben, berichtet sie. Ihre Verletzungen bestätigen das. Wie „Stakkato“, beschreibt die 61-jährige, zierliche Frau die Knüppelschläge. Insider vermuten, dass der Täter wütend gewesen sein muss. Er soll nur einen Satz zu ihr gesagt haben: „Halt die Schnauze!“ Die Haushälterin hört Hilfeschreie und eilt herbei, der Täter flieht kurz darauf. Doch zuvor verharrt er für einen Moment vor seinem Opfer.

Das Phantombild des Täters wird veröffentlicht: ein Mann, 1,70 Meter groß, schlank, sportlich, 35 bis 50 Jahre alt. Er trug einen rötlichen Bart unter schwarzer Sturmhaube, sagt Frau P., dazu Tarnjacke, schwarze Hose. Es gibt keine Lösegeldforderung, nichts wird gestohlen.

Der nächste Überfall passiert nur zwei Monate später, am 2. Oktober 2011. Familie P. lässt inzwischen das Grundstück von einem Wachschutz sichern, die Tochter gibt ihre Lehrstelle auf, um der Mutter beizustehen. Morgens gegen 7.18 Uhr gehen die 23-jährige Louisa P. und Bodygard Torsten H. vom Reitstall aufs Haus zu, als ein Maskierter vor ihnen auf der Straße vor der Villa steht. Es gibt einen heftigen Wortwechsel zwischen Bodygard und Täter. Torsten H. beschimpft den Maskierten als „Gotcha-Affen“. Der Maskierte ruft Louisa zu: „Geh auf den Boden, Mädchen.“ Sie tut es. Aber der Wachmann schreit: „Lauf, Louisa.“ In diesem Moment lädt der Täter blitzschnell eine Waffe durch und schießt aus nur vier Metern Distanz Torsten H. in den Oberkörper. Der wird später querschnittsgelähmt im Rollstuhl sitzen. Der Täter schießt Louisa zweimal hinterher, sie bleibt unverletzt. Auch bei diesem Fall wird kein Lösegeld gefordert.

Die Polizei präsentiert ein Phantomfoto

Die Polizei auf Spurensuche. Seit dem Prozessbeginn gibt es Probleme mit Ermittlungsversäumnissen im Maskenmann-Fall.
Die Polizei auf Spurensuche. Seit dem Prozessbeginn gibt es Probleme mit Ermittlungsversäumnissen im Maskenmann-Fall.

© picture alliance / dpa

Die Polizei setzt einen Mantrailer- Hund ein, der Spuren von Tätern weit verfolgen kann, selbst wenn sie mit dem Auto unterwegs waren. Die Spuren nach den Schüssen führen zu einem nahen Kreisverkehr. Von dort geht es auch in Richtung des Ortes B. Dort, nahe eines Trafohäuschens, könnte der Täter ein Motorrad abgestellt haben. Jedenfalls wollen Zeugen eines gehört haben, deutlich. So berichtet es am nächsten Tag die Polizei öffentlich. Auch der Täter wird beschrieben samt Phantomfoto: ein maskierter Mann, etwa 1,70 Meter groß, im Tarnanzug, mit schwarzen Schnürstiefeln und einem Militärhelm mit Netz vorm Gesicht. Es könnte ein ehemaliger NVA-Soldat mit Spezialausbildung gewesen sein, heißt es in Zeitungen. Bei der ZDF-Sendung „XY ungelöst“ gehen mehr als 500 Hinweise ein. Die Suche bleibt zunächst ohne Erfolg.

Ein Jahr später gibt es wieder einen Überfall

Fast genau ein Jahr nach den Schüssen, am Freitag, dem 5. Oktober 2012, gibt es wieder einen Überfall eines Maskierten. Dessen beschriebene Maskerade ist wieder ein Helm und ein Imkernetz, die Polizei nennt ihre Soko dann „Imker“. Diesmal dringt der Täter über die Terrasse ins Wochenendhaus des Berliner Investmentmanagers Stefan T. am Storkower See ein, nur acht Kilometer entfernt vom ersten und zweiten Tatort in Bad Saarow am Scharmützelsee. Der Hausherr sitzt gerade mit Frau und elfjährigem Sohn beim Fernsehen. Der Täter hält eine Waffe in den Händen. Der Hausherr wirft seine angetrunkene 1,5-Liter-Weinflasche nach ihm und schreit: „Verschwinde!“ Der Täter schießt sofort in die Decke des Raumes. Der Elfjährige muss den Vater mit Klebeband fesseln, weil die Mutter zu viel Angst hat. Das Opfer Stefan T. fragt, ob er seinen Pullover anziehen darf. Warum, fragen sich später Ermittler. Weiß er, dass es nach draußen geht? „Keine Polizei“, soll der Täter noch gesagt haben, bevor er mit dem Opfer in Richtung See verschwindet.

Das Opfer kann sich selbst befreien

33 Stunden später, am Sonntagmorgen, kann sich das 51-jährige Opfer nach eigenen Angaben befreien und klopft gegen 7 Uhr an ein Haus. Später stellt sich heraus, dass er zwei Kilometer weiter mutmaßlich im Sumpfgebiet gefangen gehalten worden sein soll, am Ufer des Storkower Sees. Trotz Herbstkälte von vier bis fünf Grad in den Nächten, trotz starken Regens am Sonnabend, trotz robben und laufen im Sumpfgebiet mit scharfen Ästen, trotz tiefer Wasserlöcher, trotz Jogginghose und Sweatshirt, obwohl er rund eineinhalb Stunden durch das Wasser mit einem Boot und einer Luftmatratze gezogen worden sein soll – Stefan T. ist nicht unterkühlt, nicht verletzt. „Ich bin ein Held an diesem Wochenende gewesen“, wird er Stunden später zur Polizei und seiner Familie stolz sagen. Der Sachverständige Harald Voss wird daran vor Gericht Zweifel äußern. Unter diesen Umständen hätte der Mann völlig unterkühlt sein müssen.

Der Täter und das Kajak

Tatwerkzeug. Mit diesem Kajak soll der Maskenmann sein Opfer verschleppt haben. Im Gerichtssaal wurde das Boot herausgeputzt präsentiert.
Tatwerkzeug. Mit diesem Kajak soll der Maskenmann sein Opfer verschleppt haben. Im Gerichtssaal wurde das Boot herausgeputzt präsentiert.

© picture alliance / dpa

Brandenburgs Polizeiführung ist sich 2012 schnell sicher, dass es sich bei allen Taten um denselben Täter handelt. Bei der zweiten und dritten Tat wurde die gleiche Waffe benutzt: eine tschechische Waffe vom Typ „Czeska“ oder etwas Baugleiches. Das Opfer wird schon am 8. Oktober 2012, vor seiner eigentlichen Vernehmung, seinem Schwiegervater sagen, dass es die gleiche Waffe war. Woher er das weiß, ist unklar. Der Bericht des BKA zu den Waffen liegt erst Tage später vor. Nach den allerersten Erzählungen des Opfers Stefan T. war das Fluchtfahrzeug erst ein Kajak und dann ein Boot, in das er umsteigen musste. Auf Nachfragen der Ermittler kann er den Vorgang nicht genau erklären und sagt, er hätte sich geirrt. Am Ende soll es nur ein Kajak gewesen sein. Überprüft hat das niemand.

Dabei hätte die Polizei hellhörig werden sollen, sagt der Kriminologe und Psychologe Lutz Belitz, der in Mecklenburg- Vorpommern Polizisten ausbildet, auch Mitglieder der Soko „Imker“ lernten bei ihm: „Wer mit Information Glaubwürdigkeit erzeugen will, will das besonders präzisiert. Nachher hat er das Problem, sich nicht alles so genau merken zu können, was er erzählt hat. Deswegen erzählt er jedes Mal eine etwas abweichende Story, aber in sich logisch, paralogisch klingend. Das heißt, seine Darstellung ist nicht gedächtnisorientiert, sondern situationsorientiert. So kann es jedenfalls auch sein."

Eine rechtsmedizinische Durchsuchung findet nicht statt

Das Kajak ist schnell gefunden. Denn anstatt Stefan T. rechtsmedizinisch zu untersuchen, was der Notarzt empfiehlt, suchen die Ermittler wenige Stunden nach der Selbstbefreiung mit dem Opfer auf dem Storkower See den Verbringungsort der Entführung. Eine Untersuchung durch die Rechtsmedizin wäre Polizei-Standard. Vor Gericht schieben sich die Beamten gegenseitig die Verantwortung dafür zu, dass T. nicht untersucht wurde.

„Ich habe ihn gefunden“, wird Stefan T. stolz seinen Verwandten berichten. Was er meint? Den mutmaßlichen Verbringungsort. Obwohl der See mehr als fünf Kilometer lang ist, dirigiert er die Polizisten in kurzer Zeit zum Tatort. Da erzählt er Erstaunliches, was sich in den zwei Nächten und Tagen zugetragen habe. Er zeigt auf eine Unterlage aus blauen Müllsäcken, darauf eine blaue Decke mit Klebeband, Schläuchen und einem grünen Seil. Mit Klebeband wurde er gefesselt. Mit Hilfe der Schläuche, wie es sie für Aquarien gibt, soll er Seewasser getrunken haben. Darüber, zwischen zwei Bäume gebunden, hängt eine blaue Plane aus Müllsäcken. Wie konnte die Konstruktion beim am Nachmittag strömenden und heftigen Regen halten, fragten sich kritische Ermittler. Wie kann er seine Brille, wie er behauptet, in die Astgabel gelegt haben, wenn er dabei womöglich verbundene Augen hatte? Der Staatsanwalt sagt im Plädoyer: Warum sollte das nicht gehen? Auf der Plane liegt beim Auffinden eine Handvoll Grasbüschel – nach Erzählungen des mutmaßlichen Opfers zur Tarnung vor Hubschraubern.

Das Kanu als Tatwerkzeug

Tatwerkzeug: das verschleppte Kajak, wie es die Polizei fand. Muscheln waren darauf, sie wurden aber nie richtig untersucht.
Tatwerkzeug: das verschleppte Kajak, wie es die Polizei fand. Muscheln waren darauf, sie wurden aber nie richtig untersucht.

© Tagesspiegel

Im Gericht werden Videoaufnahmen gezeigt, wie Stefan T. am Tatort steht. Am Ablageort vor der Decke schaut er sich unvermittelt nach hinten um und sagt zu den Polizisten, dass sie „auch mal dieses Boot fotografieren sollen“. Tatsächlich liegt da ein buntes Kajak. Er hätte es noch nie gesehen, sagt er zu den Polizisten. Aber das würde nichts heißen: „Es war ja dunkel und ich hatte fast die ganze Zeit was vor den Augen.“ Und weiter: „Das sieht aus, als würde es schon länger da liegen, mit solch einem Typ Boot bin ich meine erste Strecke gefahren.“ Er habe sich hinten an so einem Boot festgehalten. Aber das Boot sehe aus, so sagt er, „als würde es schon ein paar Wochen da liegen“. Der filmende Polizist sagt kurz: „Ja.“ Stefan T. ergänzt: „Mindestens, oder eine ganze Saison.“ Dann gibt er Anweisungen an die Beamten, wie so oft bei späteren Ermittlungen. Diese folgen willfährig.

Während er mit dem Arm nach oben zeigt, sagt Stefan T. über den Täter weiter: „Der hat sich so bemüht – bitte mal ein Foto machen nach oben –, dass man das hier schlecht als Hubschrauber einsehen kann.“ Und: „Ich hätte es ja nicht an so einem relativ auffälligen Boot gemacht.“

Vom Motorrad ist keine Rede mehr

Das Kajak, das Stefan T. entdeckt, wird vom Staatsanwalt zum Fluchtfahrzeug erklärt – bei allen drei Taten. Dafür reichen ihm Indizien, etwa, dass später Wollfasern des Opfers am Seil gefunden werden. Spuren vom Angeklagten Mario K. nicht.

Vom Motorrad, welches Zeugen bei der zweiten Tat gehört haben wollen, ist keine Rede mehr.

Schnell wird ein Foto des Kajaks veröffentlicht. Ein gelbrotes Kajak mit Klebestreifen an den Enden. Es sieht aus, als könne man damit gleich losrudern. Verschwiegen wird aber, dass das Kajak geputzt wurde und zunächst anders aussah: total verschmutzt und grün bewachsen. Erstmalig zeigt der Tagesspiegel ein Foto vom aufgefundenen Boot.

Ob das Kajak fahrtüchtig ist, wird nie geprüft

Die Ablagerungen auf dem Kajak stellen sich als Kieselalgen und Bodenhaftungen heraus. Die Gutachter vom LKA Brandenburg stellen eine Beschädigung im Bug des Bootsrumpfes fest: ein nachträglich eingefügtes Loch mit „bodenähnlichen Anhaftungen“. An und im Boot, an der Sitzmulde, befinden sich „mehrere Aufwachsungen von Muscheln“, von Zebramuscheln. Die LKA-Gutachter stellen fest, dass das Boot längere Zeit unter Wasser gelegen haben muss, und empfehlen den Rat externer Wissenschaftler. Waren die Zebramuscheln und Bodenhaftungen aus diesem oder einem anderen See, von diesem oder einem anderen Lagerplatz? Eine Untersuchung wurde offenbar nicht veranlasst. Für den Staatsanwalt steht fest: Mit diesem Kajak wurde das Opfer entführt und über den Storkower See gezogen. Ob das Kajak fahrtüchtig ist, wird nie geprüft. Stattdessen wird es zersägt und dann fürs Pressefoto wieder zusammengeflickt. Die Polizei rekonstruiert die Tat mit einem baugleichen, intakten Kajak.

Am 30. Oktober 2012 stellen zwei Polizisten die Flucht nach den Angaben von Stefan T. nach. Demnach soll er in seinen Sachen vom Kajak durchs Wasser und dann mit einer Luftmatratze ins Sumpfgebiet gezogen worden sein. Beide Polizisten haben, anders als das Opfer, einen Neoprenanzug an. Sie kommen schwer voran. Der das Kajak paddelnde Polizist erklärt, dass das Manövrieren „ziemlich schwer“ sei. Besonders im Dunkeln und in einer Schilfeinfahrt, weil das Kajak „wie verrückt eiert“. Fast unmöglich sei es, so die Polizisten, ohne Geräusche zu paddeln, wie es das Opfer erlebt haben will: „Das platscht ja auch wie verrückt.“ Hatte es sich doch um ein Boot gehandelt?

Ein Jahr später wird der Täter präsentiert

Fast ein Jahr später, am 27. September 2013, präsentieren der damalige Polizeipräsident Arne Feuring und die Führung der Soko ihren Täter. Es ist Mario K. aus Berlin. Es gab wohl zuvor einen Tipp von zwei Polizisten aus Berlin auf ihn. Mario K. war dort vorbestraft und hatte, auch in seinem Schützenverein, mit einer Czeska geschossen sowie 2004 Boote beobachtet, ihre Besitzer beklaut und die Boote später angezündet. Ein Hinweis, dem zu Recht nachzugehen war. Als Mario K. als Zeuge vorgeladen wird, erklärt er, nichts mit den Taten in Bad Saarow und Storkow zu tun zu haben. Trotzdem wird er im Anschluss monatelang immer mal wieder observiert, aber nie durchgängig. Ein sportlicher Outdoortyp, der im Sommer gern im Wald zeltet, der Seewasser trinkt, Gummihandschuhe wegschmeißt. Warum er das alles macht, findet die Polizei nicht heraus. Am 5. Mai 2014 steht er als Angeklagter vor Gericht. Es kommt heraus, dass er vor der zweiten und dritten Tat angibt, ins Ausland fahren zu wollen, was sich dann als falsch herausstellt.Ein Jahr später hält der Staatsanwalt sein Plädoyer.

Die Pyramide des Staatsanwalts

Staatsanwalt Westphal sagt: „Es muss passen.“ Wenn es einen anderen gäbe, müsse man den klonen. Er erklärt das am Modell einer Pyramide – an deren Fuß stehen alle Menschen, die Stufe um Stufe nach oben aussortiert werden. An der Spitze bleibt seiner Meinung nach nur Mario K. übrig. Doch nach Recherchen des Tagesspiegels passt es oft auch nicht. Und nach dem Muster könnte ebenso ein anderer ins Visier der Ermittler geratene Mann oben ankommen. Er hätte womöglich nachvollziehbare Motive. Vielleicht. Der Name des Mannes wird erst kurz vor Ende der Beweisführung im Gerichtssaal bekannt. Die Öffentlichkeit erfährt, dass er ein Alibi für die dritte Tatzeit hätte und deshalb für alle anderen Taten auch „nicht infrage“ käme.

Der Mann heißt Anton L. Natürlich heißt er nicht so. Wir haben den Namen geändert, ebenso andere Details, anhand derer er identifizierbar wäre. Dabei haben wir darauf geachtet, nur solche Tatsachen zu ändern, die sich austauschen lassen, ohne das Gesamtgeschehen zu verfälschen. So kann es sein, dass Anton L. kein braunes Haar hat, sondern blondes. Oder ein anderes Alter. Und sein Wohnort beginnt gewiss nicht mit einem B.

Der Mann heißt also Anton L., ist um die 50 und war damals Polizist bei der Fliegerstaffel der Polizei Brandenburg.

Nach dem Pyramiden-Bild des Staatsanwalts klettern alle Männer hinauf, Frauen fallen raus. Dann zählen nur noch deutsch sprechende, erwachsene Männer, die ab und zu, nicht dauerhaft eine Brille tragen. Die ein abstehendes Ohr haben. Deren Kopfform oval ist. Der Angeklagte Mario K. steigt auf, aber auch Anton L. fällt in diese Raster, wie Fotos belegen.

Suche nach dem Täter. Die Polizei präsentierte 2011 ein Phantombild vom Maskenmann in Tarnkleidung.
Suche nach dem Täter. Die Polizei präsentierte 2011 ein Phantombild vom Maskenmann in Tarnkleidung.

© picture alliance / dpa

Der Staatsanwalt ist sicher, das die Größe des Mario K. mit der des Täters überstimme. Denn der Täter sei 1,70 bis 1.85 Meter groß gewesen. Das Opfer Petra P. hatte 2011 von einer Größe von 1,70 Metern gesprochen. Auch die Frau des entführten Opfers erinnert sich, dass er so groß wie sie gewesen sei – 1,72 Meter. Der Staatsanwalt sagt: Man könne sich als Opfer ja auch mal irren. Mario K. ist 1,85 Meter groß. Anton L. misst 1,72 Meter.

Petra P. hat von allen drei Opfern den Tätern am deutlichsten erkannt. Sie will einen rötlichen Bart gesehen haben. Der Angeklagte Mario K. trägt nur zuweilen Bart. Der ist schwarz. Auch Anton L. trägt einen Bart – rötlich, wie Fotos zeigen.

Jetzt klettern in der Pyramide alle, die Straftaten begangen haben. Auch das hat Anton L. mit dem Angeklagten gemein. Gegen Anton L. ermittelt seit 2012 die Neuruppiner Staatsanwaltschaft. Die Anklage kommt bald. Es ist erwiesen, dass er von seinem Arbeitsplatz, dem Sitz der Fliegerstaffel Brandenburgs und der Bundespolizei, 2012 zwei teure Räder eines Hubschraubers entwendete und sie mit seinem Privatfahrzeug 70 Kilometer weiter auf ein anderes Sicherheitsgelände brachte: in den Hangar eines privaten Flugunternehmens am Flughafen Schönefeld. Das geschah alles offenbar unbemerkt in seiner Spätschicht.

Für seine Schwarzarbeit soll er rund 26 000 Euro kassiert haben

Dem Tagesspiegel liegen Dokumente vor, die belegen, dass Anton L. auch geheime Daten aus dem Polizeirechner entwendete und diese ans private Flugunternehmen weitergab. Für diese Firma arbeitete er von 2011 bis 2012 schwarz, bis er erwischt wurde. Manchmal auch in seiner Arbeitszeit, im Urlaub oder im polizeilichen Bereitschaftsdienst. Gemerkt hat es wohl keiner. Eine Genehmigung für die von ihm beantragte Nebentätigkeit wurde ihm verwehrt. Für seine Schwarzarbeit soll er rund 26 000 Euro kassiert haben, ermittelte die Staatsanwaltschaft Neuruppin. Ihr Vorwurf lautet: Bestechlichkeit und Geheimnisverrat. Anton L. ist seit 2013 nicht mehr im Dienst der Polizei.

Weiter mit der Pyramide: Laut Staatsanwalt klettern hier nun alle, die mit „fast 50 die Figur eines Jugendlichen und keinen Bierbauch haben“. Er erinnert an die trainierten Beine und Arme sowie die Kraft, die man für eine Entführung brauche. Mario K. darf klettern, weil er viel Sport treibt. Er fährt Fahrrad, einen Führerschein hat er nicht. Allerdings sagte der Sachverständige Bodo Paul im Gerichtssaal: Mario K. sei zwar fit, aber wegen der schweren Arthrose im Bein würde er ein Sumpfgebiet kaum freiwillig durchqueren. Er könne sein Bein nicht mehr als 90 Grad beugen. Staatsanwalt Westphal hält dagegen, dass Mario K. ohne Probleme als Dachdecker arbeitete und 2003 eine große Böschung hochklettern konnte. Der Angeklagte war damals auf der Flucht vor der Polizei.

Anton L. ist nicht eingeschränkt. Seinen trainierten Körper stellt er gern zur Schau, wie Fotos zeigen. Er legt Wert auf Fitness, joggt, fährt Rad, läuft Ski. Weitere Ausschlusskriterien des Staatsanwalts treffen auf beide Männer zu: Sie sind Rechtshänder und Outdoor-Typen. Und: Sie können beide schießen.

Anton L. war in der DDR Pilot bei der NVA, mit Spezialausbildung

Mario K. war früher in einem Schützenverein, er soll ein mittelmäßiger Schütze gewesen sein, sagt der Chef des Vereins aus. Der angeschossene Wachmann Torsten H. hatte berichtet, der Täter habe professionell die Waffe in einem Zug entsichet, durchgeladen und geschossen. Anton L. wurde im Rahmen seiner Polizeiausbildung als Schütze ausgebildet. Fotos zeigen, dass er auch in der Freizeit schoss. Anton L. war in der DDR Pilot bei der NVA, mit Spezialausbildung. Davon zeugen auch seine Armeesachen, die der Tagesspiegel in Augenschein nahm. Seinen Armeesack hatte er vor zwei Jahren in einem Keller stehen gelassen. Darin befindet sich ein blaues Behältnis mit seinem Namen. Auch die darin enthaltenen Pilotenlederhauben und eine NVA-Mütze tragen seinen Namen. Die Beschriftung auf dem Behältnis weisen auf mehr Ausrüstung hin. „Helm 1“ steht auf dem Deckel, an der Seite mit kyrillischen Buchstaben: Helm. Sturmmaske. Anzug. Die befinden sich nicht darin. Dafür ein Visier eines Pilotenhelms, das nicht unpassend zum Phantomfoto zur zweiten Tat erscheint.

Laut Staatsanwalt kommen für die Taten nun alle infrage, die die Gegend um Storkow und Bad Saarow kennen. Mario K. soll sie ausgekundschaftet haben. Beweise dafür liefert der Staatsanwalt nicht. Stattdessen gibt er an, dass Mario K. vor Jahren mal auf einer Schilfinsel lebte. Dort fand die Polizei eine Landkarte, auf der Orte markiert waren; Punkte in einem unwegsamen Gelände, ähnlich dem Sumpf, wo der Entführte Stefan T. festgehalten worden sein soll. Mario K. soll auch monatelang die Villa des Unternehmers Stefan T. vom Storkower See aus ausgekundschaftet haben. Doch was hat er dabei gesehen? Ermittler stellten bei einem Ortstermin fest, dass man durch die vielen Laubbäume nicht viel vom Grundstück erkenne. Doch die Fotos von diesem Termin befanden sich nicht in den Akten, der Umstand kam erst vor Gericht zur Sprache. Vielleicht, weil der Chef der Mordkommission Falk Küchler an diesem Tag im Dienst alkoholisiert war? Das kam heraus, als sich das Opfer darüber beschwerte. Küchler bekam ein Disziplinarverfahren.

Die Polizei wird die Schwiegereltern nie als Zeugen vernehmen

Der Uferweg vor der Villa ist öffentlich. Hier ging die Frau des Unternehmers mit ihrem Hund spazieren, andere Anwohner auch. Hat jemand hier einen Mann auf dem See gesehen? Die Schwiegereltern von Stefan T. waren eine Woche vor der Tat mit ihrem Wohnwagen zu Besuch. Doch die Polizei wird die Schwiegereltern nie als Zeugen vernehmen. Stefan T. wollte es nicht, sagen Beamte. Die Polizei folgte dem wohl, warum auch immer.

Anton L. braucht sich in der Gegend gar nicht heimlich als Beobachter zu postieren. Er kennt Storkow und Bad Saarow bestens, wohnt nicht allzu weit vom Tatort der Entführung und vom Tatort in Bad Saarow entfernt – im Ort B. Anton L. flog das Gelände in Storkow und Bad Saarow auch mit Hubschraubern ab, wie Fotos mit Navigationsangaben belegen. Navigationssysteme nutzte er sowieso öfter. Das Geo-Caching, eine Art Schnitzeljagd, ist sein Hobby, welches er damals mit Frau und Tochter betreibt. Das bestätigt seine Frau auf Nachfrage. Ihr Mann ist 2013 zu einer anderen Frau gezogen.

Beim Geo-Caching sucht man einen Schatz; hat man ihn gefunden, vergräbt man dort seinen Namen. Etwas wehmütig zeigt die verlassene Frau Orte, an denen sie mit Anton L. ihre Schätze vergrub. Es gibt Fundstellen nur 200 Meter vom Ablegeort der Entführung entfernt. Auch in Bad Saarow haben die beiden per GPS vom Handy aus gesucht. Stefan T. betont bei seiner Vernehmung am 16. Oktober 2012, dass der Täter auf dem Weg zum Ablegeort ständig mit einem GPS-System beschäftigt gewesen sei, „das ihm den richtigen Weg anzeigen sollte“.

Interessant sind auch Erpresserbriefe, die das mutmaßliche Opfer Stefan T. auf Befehl des Täters an seine Ehefrau schrieb. Briefe, deren Texte versteckte GPS-Koordinaten enthielten, die in der Summe den Ort der Übergabe von einer Million Euro Lösegeld darstellen sollten. Die Ehefrau des Entführungsopfers sollte Annoncen schalten unter der Rubik „Geschäftskontakte“; die Rede war dabei auch von einer Kinderarztpraxis. Vor Gericht wird aus den Erpresserbriefen zitiert. Die neue Frau an der Seite von Anton L. ist Kinderärztin mit eigener Praxis.

An der Spitze der Pyramide

Ein kleines Indiz im „Maskenmann“-Fall ist ein Hundehaar, das auf der Schilfinsel gefunden wurde. Der Staatsanwalt führt es an. Denn Mario K. besuchte Freunde, die Hunde besitzen. Anton L. besitzt einen Hund, mit dem er viel unterwegs war, in den Wäldern der Gegend, wie Fotos und Zeugenaussagen belegen. Auch hat sein guter Freund Klaus H., bei dem er viel Freizeit verbringt, einen Hund.

Mario K. trägt gern Tarnsachen; Armeekleidung, sagt der Staatsanwalt. Solche Sachen wurden bei einer Hausdurchsuchung beim Mann seiner Schwester gefunden. Für den Staatsanwalt steht fest: Sie gehören Mario K. Dass er mal bei der Armee war, ist nicht bekannt. Anders NVA-Pilot Anton L. Seine Noch-Ehefrau sagt: „Mein Mann hatte eine Jacke und einen Overall aus Armeezeiten, und die waren grün mit braunen Flecken – na, wie Tarnzeug bei der Armee eben so aussieht.“

Zeugen haben den Angeklagten am Glubigsee gesehen

Bleibt noch das Kajak als Fluchtfahrzeug. Mario K. soll es benutzt haben. Es gibt einige DNA-Spuren am Boot, keine von Mario K. Aber: Ein älteres Ehepaar hätte das farbige Boot Ende September 2012 am Glubigsee liegen sehen, heißt es. Der Glubigsee ist keine zwei Kilometer Luftlinie vom Storkower See entfernt und mit dem Scharmützelsee verbunden. Der Staatsanwalt erklärt, dass Mario K. auch da gewesen sein muss. Schließlich sei belegt, dass er irgendein Kajak schon 2003 benutzt hätte. Was der Staatsanwalt nicht erwähnt oder nicht weiß: Ein solches Kajak hatte Mario K. damals geschwärzt – vielleicht, um nicht aufzufallen. Warum könnte er nun ein rotgelbes Boot als Tatwerkzeug benutzt haben? Eine andere Zeugin und deren Mann haben laut Staatsanwalt den Angeklagten im Sommer 2012 am Glubigsee gesehen. Doch weder im Gerichtssaal noch auf Nachfrage war sich die Frau, eine Rechtsanwältin, hundertprozentig sicher. Sie hat einen „ähnlich aussehenden Mann gesehen“, sagt sie. Anton L. kennt den Glubigsee gut. Seine Frau wohnte hier, als sich beide kennenlernten; seine Schwiegermutter tut es noch immer. Seine Ehefrau sagt auf Nachfrage, dass sie beide auf dem See Boot gefahren seien.

Das Motiv fehlt, gibt der Staatsanwalt zu

Den Storkower See und den Scharmützelsee kennt Anton L. gut. Eine seiner Joggingstrecken führte ihn von B. aus zum „Arosa“-Golfhotel nach Bad Saarow. Unterhalb des Hotels direkt am Scharmützelsee liegt die Yachtakademie Schmidt. Hier soll das Kajak gestohlen worden sein. Auf den Gewässern, durch Kanäle verbunden, ist Anton L. viel mit dem blauen Ruderboot seines Freundes Klaus H. unterwegs, mit und ohne Motor und vor allem vor 2013. Das belegen Fotos und Zeugenaussagen. Anton L. besitzt auch einen Angelschein. Ermittler sprachen von „Anglerknoten“, mit denen Stefan T. verschnürt wurde. Auch Stefan T. ist sich sicher – so sagt er der Polizei –, dass es Anglerknoten sein müssen. Das alles kann Zufall sein. Es wäre zu klären.

Mario K. und Anton L. – beide stehen nun oben auf der Pyramide. Doch zum Schluss des Plädoyers gibt der Staatsanwalt zu: Mario K. fehlt das Motiv, zumindest für die ersten beiden Taten ohne Lösegeldforderung. Westphals Erklärung: Mario K. habe einen „Hass auf Reiche“, er wäre „notorisch pleite“. Der Angeklagte hatte bei seiner Festnahme 350 Euro auf dem Konto und zu Hause 300 Euro bar. Aber pleite war auch Anton L.

Motive und das Alibi

Der Abschlussbericht der Polizeiermittlungen vom November 2012 zu der Spur von Anton L. ist kurz. „Die Ermittlungen zur Person (...) ergaben, dass dieser am 6.10.2012 im Rahmen der Rufbereitschaft in der Polizeihubschrauberstaffel gegen 4.00 Uhr wegen der BAO Imker zum Einsatz gebracht worden ist. Herr ... übernahm dann auf der Dienststelle die Funktion eines Flugkoordinators. Um 10 Uhr wurde er noch am gleichen Tag aus dem Einsatz entlassen. Insofern verfügt Herr ... über ein plausibles Alibi und scheidet als möglicher Täter für die Entführung von Stefan T. und weiter dann auch für die Angriffe gegen Familie P. aus.“

Ein riesiges Aufgebot der Polizei suchte nach dem Tatverdächtigen. Zwar waren zahlreiche Hinweise eingegangen, die Ermittlungsarbeit war aber mühsam.
Ein riesiges Aufgebot der Polizei suchte nach dem Tatverdächtigen. Zwar waren zahlreiche Hinweise eingegangen, die Ermittlungsarbeit war aber mühsam.

© Thomas Schröder

Anton L. war als Polizist in die Ermittlungen einbezogen – mittelbar. Niemand prüfte, was er als „Flugkoordinator“ genau zu tun hatte, was er vorher und später tat. Tatsache ist: Am 5. 10. 2012 hatte er bis 19 Uhr Dienst, aber nicht zum Entführungszeitpunkt um 21.30 Uhr. Was er tat, daran kann sich seine Frau nicht mehr erinnern. Ein Vergleich ihres Familienkalenders von 2012 mit dem Dienstplan zeigt, dass seine ihr angegebenen Arbeitszeiten nicht immer mit den Schichten übereinstimmen. Zudem hatte er an Tagen, die im Dienstplan als Urlaub, medizinische Untersuchung oder Bereitschaft eingetragen waren, schwarz bei der privaten Hubschrauberfirma gearbeitet.

Anton L. fuhr nicht gleich nach Hause

In der Nacht vom 5. auf den 6.10. 2012 – so das Opfer – hätte er voll gefesselt am Ablageort gelegen und erst wieder morgens um 11 Uhr Kontakt zum Entführer gehabt.

Tatsache ist, dass Anton L. in der Nacht keinen Flug koordinieren musste, weil bis zum Morgen kein Hubschrauber in die Luft ging. Obwohl er laut Abschlussbericht um 10 Uhr früh aus dem Dienst entlassen wurde, fuhr er nach Aussagen seiner Frau nicht gleich nach Hause. Sie sagt auf Nachfrage: „Ich kann mich noch gut an diese Nacht vom 6. Oktober erinnern, weil er zum Dienst rausgeklingelt wurde, so gegen 3 oder 4 Uhr. Das war doch eher selten der Fall.“ Ihr Mann hätte beim Abschied von einer Entführung gesprochen, wegen der er losmüsste. „Er kam dann an diesem Samstag erst gegen frühen Abend nach Hause, also dem 6. Oktober 2012 so gegen 18 Uhr. Ich habe ihn noch gefragt, was los war. So eine Entführung war doch spektakulär, auch noch bei uns in der Nähe.“ Er habe geantwortet, dass es eher langweilig gewesen sei oder er die ganze Zeit rumgesessen habe. Sie seien nicht mit dem Hubschrauber geflogen, berichtet die Frau. Und das stimmt. Der Hubschrauber, der dann von seinem Kollegen geführt wird, fliegt erst gegen 17 Uhr. All das hätte die Ehefrau der Polizei erzählt, wenn sie gefragt worden wäre.

Laut Dienstplan hat er kein Alibi

Als Stefan T. nach der Entführung wieder Kontakt mit dem Entführer gehabt haben soll, gegen 11 Uhr an diesem Samstag, war Anton L. außer Dienst, aber nicht zu Hause. Folgt man den Schilderungen des Opfers, hat der Täter ihn erst um diese Zeit von den Fesseln befreit; dann musste er die Erpresserbriefe schreiben. Gegen 17 Uhr wäre er wieder „voll gefesselt“ worden, mit Klebeband und auch Ohrstöpseln. In einer Rekonstruktion demonstriert er das den Polizisten und erklärt, dass er nach dieser Zeit keinen Kontakt mehr zum Täter hatte. Anton L. wäre – falls seine verlassene Frau recht hat – erst gegen 18 Uhr zuhause. Der Ablageort liegt nur wenige Minuten entfernt.

Für die ersten beiden Taten ergibt sich, zumindest aus seinem Dienstplan, kein Alibi für Anton L.

Die Ehefrau wurde nie befragt

Zur dritten Tat, der Entführung, hat Stefan T. später berichtet, er habe am frühen Morgen des 7. Oktober die Fesseln gelöst, sich befreit und sei durch den Sumpf geflohen. Zwar hätte er geglaubt, er würde vom Täter verfolgt, doch gesehen habe er ihn nicht, sagt er vor Gericht. Man könnte nun viel spekulieren und ermitteln, in alle Richtungen. Womöglich wurde der Plan, das mutmaßliche Opfer festzuhalten und zu verfolgen, aufgegeben, weil Kollegen von Anton L. mit dem Hubschrauber Filmaufnahmen machten, auf denen später ein Mann im Sumpf gesichtet wird. Womöglich war alles auch anders. Oder genau so, wie es die Indizienkette des Staatsanwaltes zeigt. Den Mann auf den Filmaufnahmen wird man nie identifizieren können.

Die Ermittler haben die Ehefrau von Anton L. nie befragt. Warum nicht?

Herausgefunden haben sie aber, dass der Mann in Insolvenz gegangen ist. Ein Staatsdiener in Privatinsolvenz ist anfällig für Korruption. Dafür gibt es Richtlinien. Nach einem Protokoll, das dem Tagesspiegel vorliegt, führte der Leiter der Fachdirektion „Besondere Dienste“ am 23. August 2011 ein Mitarbeitergespräch mit Anton L. und pochte auf Pflichten im Beamtengesetz: in geordneten Verhältnissen zu leben, finanzielle Verbindlichkeiten zu erfüllen, nicht leichtfertig Schulden einzugehen. Andernfalls drohten ein Disziplinarverfahren und gar der Rausschmiss. Anton L. hatte diese Grenzen längst überschritten, wie seine Gläubigerliste zeigt. Er war in der Klemme, Kollegen wussten das. Der erste Überfall geschah am 22. August 2011, einen Tag vor dem Offenbarungstermin. Zufall? Ermittelt wurde es nicht.

Es ist ein offenes Geheimnis, dass er sich oft Geld borgte

Der Polizeibeamte Anton L. hatte damals rund 140 000 Euro Schulden. In B. ist es ein offenes Geheimnis, dass er sich oft Geld borgte, über seine Verhältnisse lebte: mit schönen Autos, teuren Klamotten, einer Hochzeit in einem fernen Land. Anton L. liebte die Reichen, erzählt seine Frau auf Nachfrage. „Er suchte förmlich die Nähe von reichen Leuten, schwärmte von Luxus, vor allem für tolle Autos.“ – „Für Geld macht der alles“, erzählt der Auftraggeber der privaten Firma, für die er nebenbei arbeitet. Anton L. sei ein Mensch, der sich oft über Materielles und den Job als Pilot definierte, heißt es aus Kollegenkreisen.

Ein Jahr zuvor hatten die Ermittler erste DNA-Proben wurden genommen und ausgewertet. Einen Massengentest wollte die Polizei aber erst als letztes Mittel einsetzen.
Ein Jahr zuvor hatten die Ermittler erste DNA-Proben wurden genommen und ausgewertet. Einen Massengentest wollte die Polizei aber erst als letztes Mittel einsetzen.

© dpa

Doch für seine teuren Bedürfnisse reichte das Beamtengehalt von rund 3000 Euro netto nicht aus. Also erzählte Anton L. Geschichten, um sich Geld zu leihen. So überredete er seine Schwiegermutter, für ihn einen Kredit aufzunehmen, damit er einen Wagen der Oberklasse fahren konnte. Heute sitzt sie auf den Schulden. Er schaffte es, dass ihm ein Rechtsanwalt aus Berlin 10 000 Euro lieh. Das Geld sah der nie wieder.

Anfang 2011 trug sich noch etwas zu: Sein Vater sollte angeblich 20 Millionen Euro von einem Verwandten erben, der beim Tsunami 2004 in Thailand ums Leben gekommen sein soll. Das jedenfalls erzählten Vater und Sohn 2011 jenen, bei denen sich Anton L. dafür Geld borgte. Sein Chef der Fliegerstaffel beschreibt das gegenüber Ermittlern im Verfahren gegen Anton L. wegen Bestechlichkeit so: „In dieser Zeit Ende 2010/Anfang 2011 hat er sich dienstlich sehr grenzwertig verhalten. Möglicherweise dachte er auch daran, sich beruflich neu zu orientieren und sah sich persönlich in einer völlig neuen und anderen Situation. In dieser Zeit hatte ich deshalb verstärkt auch Mitarbeitergespräche mit ihm geführt.“ Um die 20 Millionen Euro nach Deutschland zu kriegen, sollte der Vater in Vorkasse gehen, für Gutachten und Gebühren. Bald stellt sich alles als Betrug heraus. Der Vater verlor 80 000 Euro. Anton L.’s Schuldenberg wuchs. Ständig gab es Rückbuchungen auf seinem Konto für Kleinbeträge. Seine Mutter und ihr Mann mussten Insolvenz anmelden. Heute hat Anton L. offiziell rund 235 000 Euro Schulden. Wenn Mario K. pleite war, ist es Anton L. erst recht.

Dennoch fuhr Anton L. gerne schicke Motorräder. Es liegen Fotos von ihm vor, etwa auf Tour mit einer schwarzen Kawasaki Ninja. Wegen seiner Insolvenz hatte er dieses Motorrad auf einen Freund angemeldet. Gefahren ist er es selbst, wie Fotos zeigen. Einem Beleg vom Finanzamt zufolge hat er selbst Steuern dafür bezahlt. Am 22. Oktober 2011, knapp drei Wochen nach der zweiten Tat (2.10.2011), verkauft er plötzlich das geliebte Motorrad oder lässt es verkaufen. Warum? Zeugen hatten ein Motorrad nach der zweiten Tat gehört. Die Polizei veröffentlichte diese Spur zu diesem Zeitpunkt.

Orte der Opfer

Das Opfer Stefan T. und Anton L. kannten sich womöglich – und zwar vom Golfplatz am „Arosa“-Hotel in Bad Saarow. „Mein Mann spielte damals, so oft er Zeit hatte, im Arosa Golf, obwohl er sich das eigentlich finanziell nicht leisten konnte. Er wollte gern Mitglied werden. Doch das hätte 800 Euro Jahresgebühr gekostet. Er hat sich immer so eine Tageskarte gekauft.“ Ein einstiger Hubschrauberkollege und Freund, der diese Aussagen auch vor der Polizei machen würde, hier aber anonym bleiben will, berichtet, er habe Anton L. „mal vom Arosa Golfplatz abgeholt, da musste ich auf ihn warten, weil er sich mit einem Mann unterhielt. Ich weiß es noch so genau, weil ich mich erinnern konnte, dass mein Cappuccino sechs Euro gekostet hat. Der Mann hat sich dann vorgestellt als Stefan T. Die beiden haben sich verabschiedet und waren auch per Du.“ Später, so berichtet der Zeuge, habe er von der Entführung in Storkow gehört und habe Anton L. darauf angesprochen. „Ich sagte: ’Ey, das ist doch der, mit dem du da Golfspielen warst.’ Da sagte er: ’Ja, ich kenne den aber nur flüchtig’, und wollte nicht mehr darüber reden."

Im Kalender steht "target one"

Inzwischen stellen sich auch Fragen an Stefan T.: Hat das Opfer der Entführung mittlerweile Deutschland verlassen? Warum steht in seinem Kalender am Entführungstag der Eintrag: „target one“ – „Ziel eins“ – wie ein Kollege dem Gericht berichtet? Die Familie verkauft jedenfalls die Villa in Storkow. Auch sein Wohnhaus in Berlin steht zum Verkauf. Mit der Begründung, er müsse der Polizei bei den Ermittlungen helfen, soll er sich lange Zeit von der Arbeit freigestellt haben. Ein Kollege bestätigt das vor Gericht. Musste er das? Bei einigen Vernehmungen trat er jedenfalls bestimmend auf. Am 16. Oktober 2012 berichtet er vom Schlauch, aus dem er Seewasser habe trinken müssen: „Der Täter bat mich dann, in den Schlauch anzublasen. Das Ergebnis war positiv. Ich konnte das Moorwasser ansaugen und trinken.“ Im LKA- Gutachten soll später allerdings stehen, es habe „keine Anhaftungen im Schlauch“ gegeben.

Stefan T. soll mit seiner Familie seit Langem in der Schweiz leben. Die Ermittler erfahren das nur durch Zufall mit dem Hinweis, dass die Adresse geheim bleiben müsse. Im Gericht gibt er den Wohnort „Berlin“ an. Aus vielen Firmen hat er sich als Geschäftsführer verabschiedet. Seit Februar 2015 hat er auch den Vorstand der Holding verlassen. Warum? Diese Frage wollen er und sein Rechtsanwalt nicht beantworten.

Wenn man Angaben von Freunden von Anton L. folgt, kann man auch fragen: Kannte Anton L. auch die erste Opferfamilie P. aus Bad Saarow? „Er hat mit dem P. an der Börse gezockt, aber viel verloren“, sagt einer, dem er das erzählt haben soll. Überprüfen lässt sich das nicht. Recherchieren lässt sich zumindest, dass der Ehemann des ersten Opfers Christian P. sowie Anton L. in der gleichen Kneipe verkehrten; und zwar in B. Der Wirt bestätigt das auf Nachfrage.

Der Spürhund lief nach B.

Christian P. kam wohl oft nach dem Golfen vom „Arosa“-Hotel in diese Kneipe „auf einen Absacker mit einigen Leuten“, wie der Wirt sagt. Christian P. kam also vom Golfplatz, wo auch das Entführungsopfer Stefan T. sowie Anton L. spielten. Und Anton L. sei auch Stammgast in der Kneipe in B. Fotos, die dieser Zeitung vorliegen, belegen Besuche. Auch in einem Strandrestaurant in Bad Saarow ging Christian P. ein und aus – wie auch Anton L. Der Unternehmer aus Berlin Christian P. erzählte von legendären Partys an jenem Ort sogar vor Gericht. Fotos von Anton L. belegen, dass auch er hier feierte.

Der Mann, um den sich so viele Fragen ranken, soll auch das erste Opfer Petra P. gut gekannt haben, erzählt zumindest sein Hubschrauberkollege. „Wir saßen in der Küche und ich las in der Zeitung den Namen und die Geschichte vom Überfall auf die Familie.“ Da habe Anton L. gesagt: „’Ja, die kenne ich’, und grinste.“

Nach Recherchen dieser Zeitung meldet Petra P. Anfang 2011 in Bad Saarow ihren neuen Wohnsitz an. Ihr Mann hatte zuvor jahrelang ein Verhältnis mit einer jüngeren Frau aus Bad Saarow. Dass die Ehe nur auf dem Papier stand, ist gerichtsfest.

Wie gut kannte Anton L. tatsächlich Petra P.? Als wir all diese Fragen stellen wollen, will kein Betroffener reden. Ein Hintergrundgespräch, beantragt bei den Rechtsanwälten der Betroffenen, wird abgelehnt.

Nach Informationen des Tagesspiegels hat Petra P. nach dem Anschlag auf sie eine private Firma aus Berlin engagiert, die mit einem Spürhund, mit einem sogenannten Mantrailer, den Spuren des Täters nachgehen sollte. Der Hund lief direkt in den Ort B. All das kann Zufall sein. Es wäre zumindest zu prüfen.

Im Leben von Anton L.

Es gibt viele Fragen an Anton L. Konfrontiert damit vor seinem Haus will er dazu keine Auskünfte geben. Nur auf die Frage, ob er finanzielle Schwierigkeiten habe, grinst er und streitet es ab. „Alles Quatsch.“

Belegt und für die Ermittler ersichtlich ist: Die Handynummer von Anton L. war bei allen drei Taten in der entsprechenden Funkzelle der Tatorte eingeloggt. Und am 5. Oktober 2012, am Tag der dritten Tat, schloss er einen weiteren Vertrag mit einer Telefonfirma ab. Auch diese Nummer wurde am letzten Tatort geortet. Das alles kann etwas heißen, muss es aber nicht. Es kann auch Zufall sein. Aber es gibt viele Indizien, die zumindest polizeilich und gerichtlich weiter zu prüfen wären.

Er hatte vor etwa einem Jahr einen Geschäftsmann entführt, der sich aber nach einem anderthalbtägigen Martyrium aus der Gewalt des Täters befreien konnte. Karte: In Wendisch Rietz gelang es dem Opfer, seinem Entführer zu entkommen.
Er hatte vor etwa einem Jahr einen Geschäftsmann entführt, der sich aber nach einem anderthalbtägigen Martyrium aus der Gewalt des Täters befreien konnte. Karte: In Wendisch Rietz gelang es dem Opfer, seinem Entführer zu entkommen.

© dapd

Der Verteidiger beantragt am 52. Verhandlungstag, die Akten zu Anton L. in den Prozess einzuführen. Staatsanwalt Westphal lehnt das ab, das Gericht ebenso, weil die Polizei sein Alibi überprüft hätte. Schade, hätte die Öffentlichkeit sonst vielleicht erfahren, was Anton L. nach seiner Entlassung aus dem Polizeidienst tat. Zuletzt flog er für eine Hilfsorganisation als Hubschrauberpilot im Ausland. Schulden von rund 6000 Euro, die sich bei seinem Vermieter anhäuften, kann er mit einem Mal zurückzahlen. Auch bei seinem Hubschrauberkollegen begleicht er 10 000 Euro Schulden in bar.

Vor seiner Tür steht ein Oberklasse- Sportwagen – er parkt sichtbar vor der Praxis der Kinderärztin. Er ist auf ihren Namen zugelassen, wahrscheinlich wegen seines Insolvenzverfahrens, das noch bis 2017 läuft. Vor der Anmeldung im April 2015 fuhr die Freundin einen Kleinwagen, der auf ihren Vater zugelassen war.

Es muss passen, sagte Staatsanwalt Westphal zum Angeklagten Mario K. Eigentlich passt manches nicht. Bei Anton L. dagegen passt einiges besser oder zumindest ähnlich. Und: Er hätte ein Motiv. Vielleicht. Es wäre zu prüfen.

Anton L. unterschreibt seine E-Mails zuweilen mit „Bruce“. Auf Nachfrage erzählen diejenigen, die solche Mails von ihm haben, dass er so genannt werde und dass auf dem Anrufbeantworter seines Handys die Stimme von Bruce Willis zu hören ist – mit einem Satz aus dem Film „Stirb langsam“. Darin geht es um Entführungen und einen Polizisten, der der Held ist.

Renate Rost

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