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Berlin: Die Leidenschaft der Deutschen

Großbritanniens Kulturministerin Tessa Jowell über Sir Simon Rattles Engagement für Jugendliche

Heute Abend werde ich in einem ehemaligen Omnibus-Betriebshof in Ost-Berlin die Berliner Philharmoniker und zweihundert Jugendliche bei einer Aufführung von Strawinskys Sacre du Printemps erleben. Für mich ist das Grund genug, um die 1000 Kilometer nach Berlin zu reisen. Es ist eine Chance zu erleben, wie ein großes Werk des 20. Jahrhunderts vor unseren Augen neu entsteht. Eine Chance, eines der großen Orchester der Welt zu hören. Und eine Chance mitzuerleben, wie die nächste Künstler-, Musiker- und Musikliebhabergeneration die Kraft der Strawinskyschen Musik für sich entdeckt.

Auch heute noch nehmen wir dankbar fremde Einflüsse auf. Die Globalisierung macht es uns unmöglich, unsere Kultur hermetisch abzuriegeln, selbst wenn wir das wollten. Der junge Mann aus Nordengland, dessen Großeltern aus Pakistan stammen, wird von dem Klang und der Kultur seines unmittelbaren Umfelds geprägt, das an sich schon eine Mischung aus englischen und asiatischen Einflüssen ist. Und über seine Familie, das Internet und das Fernsehen hat er einen besonderen Draht zum Land und zur Kultur seiner Großeltern. Was er hervorbringt, ist etwas für ihn Typisches, aber auch etwas typisch Britisches.

Heute muss sich jedes europäische Land die Frage stellen, wie es seine nationale Identität unter Berücksichtigung dieses natürlichen Prozesses gestalten will. Daneben jedoch müssen die Regierungen sich bewusst werden, dass sie ihren Bürgern gegenüber Pflichten haben: Einerseits müssen sie die Voraussetzungen dafür schaffen, dass bei entsprechender Begabung jeder die Chance hat, künstlerisch tätig zu sein, und zweitens müssen sie für ein möglichst breites Kulturangebot sorgen. Wir dürfen das nicht dem Markt allein überlassen. Denn sonst bestünde die Gefahr einer schleichenden Vereinheitlichung der Kultur – die Kehrseite der insgesamt positiven Vermischung der Kulturen. Subventionen machen ein breites Angebot möglich. Und ein breites Angebot wiederum spornt zu einem Kunst- und Kulturschaffen auf höchstem Niveau an.

Im Herbst 2002 waren die Straßen der Berliner Innenstadt mit Plakaten übersät. Die meisten waren Wahlplakate für Gerhard Schröder oder Edmund Stoiber. Aber auf vielen war Sir Simon Rattle zu sehen, der neue Chefdirigent der Berliner Philharmoniker. Und darunter stand geschrieben: „Welcome Sir Simon“. Diese Plakate sollten uns in Großbritannien zu denken geben. Es ist einfach unvorstellbar, dass man in London so viel Aufhebens gemacht hätte, wenn ein berühmter Musiker die Leitung eines unserer großen Orchester übernommen hätte. England hat eine große kulturelle Tradition und Gegenwart. Vielleicht fehlt uns in Großbritannien aber einfach die Leidenschaft der Deutschen, über Kultur zu streiten.

Was ich aus meinem allzu kurzen Berlinbesuch vor allem zu lernen hoffe, ist Folgendes: Wir sollten uns nicht scheuen, über Kultur zu reden. Britische Politiker sollten sich nicht scheuen, der Kultur einen hohen Stellenwert im öffentlichen Diskurs einzuräumen. Deutschland ist einer der großen kulturellen Antriebskräfte Europas. Großbritannien ebenso. Ich hoffe daher, dass der Mut, den Deutschland bei der Diskussion über den Begriff der kulturellen Identität bewiesen hat, auch ein wenig auf Ihre englischen Vettern abfärben wird.

Tessa Jowell ist Großbritanniens Ministerin für Kultur, Medien und Sport. Siehe auch Berlin-Kultur, Seite 27 .

Tessa Jowell

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