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Berlin: Die Mauer für die Jackentasche

Eineinhalb Jahre lang hat der Berliner Zeichner Werner Kruse, alias Robinson, vom Westen aus die Mauer gezeichnet – drei bis vier Tage die Woche. Sein Sohn Peter hat die Schwarz-Weiß-Originale mit Computer bearbeitet und coloriert. Jetzt gibt es das Bild als Leporello zu kaufen: zwei Mal fünf Meter

Diese Mauer nimmt überhaupt kein Ende. Man kann es drehen und wenden, wie man will – immer kommt das steinerne Monstrum ins Bild. Denn es ist das Hauptmotiv auf dem fünf Meter langen, beidseitig bedruckten Leporello, das in diesen Tagen, kurz vor dem 45. Jahrestag des Mauerbaus am 13. August 1961, in einer handlichen Mappe erschienen und im Buchhandel zu haben ist. Man kann also die Mauer in der Jackentasche nach Hause tragen, das Leporello aufklappen und in aller Ruhe darüber nachsinnen, was dieser Stadt und ihren Bewohnern 28 Jahre lang zugemutet wurde. Menschen, die lernen mussten, mit der Mauer und in ihrem Schatten zu leben, zucken zusammen, wenn sie zum Beispiel die Beschreibung eines Blicks in die einst belebte und 1961 geteilte Brunnenstraße lesen: „Zwischen den Sichtblenden und der Sperrmauer quer zur Straße befand sich der nördliche Ausgang des U-Bahnhofs Bernauer Straße, der seit dem 13. August nur noch durch Grenztruppen zu betreten war. Die Züge auf der Strecke zwischen Gesundbrunnen und Neukölln hielten zwischen den Bahnhöfen Voltastraße und Moritzplatz an keiner der insgesamt sechs Stationen. Sie wurden zu vermauerten und streng bewachten ,Geisterbahnhöfen‘“.

Die Texte kommentieren eine erstaunliche Arbeit, deren Wiederentdeckung die aktuelle Diskussion über die Realität der Mauer mitten in der Stadt mit steinharten Fakten bereichert. 1963 hatte sich der Zeichner Werner Kruse, bekannt unter dem Künstlernamen Robinson, darangemacht, den Verlauf der Mauer zwischen Bernauer Straße und Oberbaumbrücke zu dokumentieren. Wochenlang beobachtete er von der West-Berliner Seite aus, was er beim Blick in den abgesperrten Osten sah – Häuser, Wachtürme, Stacheldraht, Grenzübergänge, vermauerte Fensterhöhlen, Sichtblenden, Spanische Reiter, dazu im Westen Warnschilder, Proteste gegen die „Schandmauer“, Aussichtsplattformen. Robinson hat dies mit Akribie und großer Liebe zum Detail in seinem Skizzenblock mit Bleisiftstrichen notiert, am Ende wars ein 22 Meter langer Papierstreifen, der 1965 von seinem Sohn Peter Kruse verlegt wurde.

Auf seiner Suche nach Mauer-Material stieß der Berliner Verleger Ulrich Giersch auf das seitdem nie wieder verlegte Werk, besuchte den Künstlersohn in Hamburg und war auf der Stelle fasziniert von dem Gedanken, die schwarz-weiße Breitwand-Mauer neu herauszugeben, mit Anmerkungen und aktuellen Fotos versehen und in Farbe. „Nachdem wir das schwarz-weiße Original mit Hilfe der Computertechnik übertragen und coloriert hatten, wollten wir Robinsons Pioniertat zu einem historischen Panorama erweitern, es sollte vom Ausgangspunkt 1964 einen sinnvollen Bogen bis in die Gegenwart schlagen.“ So wurden Fotos von damals und heute an die passenden Stellen montiert und mit einem knapp erläuternden Text versehen. Fünf Meter lang ist das Leporello geworden, macht, vorn und hinten bedruckt, zehn Meter Mauerbild von der Bernauer Straße bis zur Oberbaumbrücke.

Peter Kruse erzählt von seinem Vater, der 1994 im Alter von 83 Jahren gestorben ist, dass Robinson in seinem Zeichner-Leben ungefähr 250 000 Illustrationen angefertigt hat, vom Ölbild bis zur Grafik als Buchillustrator und Pressezeichner. Die Großmutter war einst mit dem Knaben Werner Kruse, der schon als Kind alles, was ihm vor Augen kam, gezeichnet hat, zum großen Meister Heinrich Zille gegangen. „Hat der Junge Talent?“, fragte die Oma, und Zille sagte ja, hat er, „aber jarantieren, det mal wat draus wird, kann ick nich“. Kruse ging nach der Schule in eine Werbeagentur, sein ewig bleibendes Meisterstück war der Sarotti-Mohr, nach dem Krieg gründete Kruse die erste deutsche Sportzeitung „Sport-Forum“, zeichnete auch im „Abend“ und im Tagesspiegel Karikaturen, Gerichtsbilder, Humor, Roman-Illustrationen. „Die Wolke“ nannte sich der Künstler-Klub der Berliner Zeichner, in dem sich die Gilde der Humoristen mit dem Stift traf. Vielleicht kam hier bei einer Molle die Idee, dieses schreckliche, die Stadt und die Menschen zerstörende Bauwerk zu dokumentieren. „Jedenfalls zog er eines Tages los mit einem Stapel Papier und Bleistift und malte fast eineinhalb Jahre lang, drei bis vier Tage die Woche, was dann noch in Tusche vervollständigt wurde“, sagt Peter Kruse. Eine besondere „Spezialität“ seines Vaters war übrigens die Zeichnung von Exploramen – beim Explorama werden große Gebäude aufgeschnitten, so dass der Betrachter durch die Fassade blickt. Robinson malte so den Flughafen Tegel, den Palast der Republik und den Bahnhof Friedrichstraße mit Tränenpavillon und allen Schaltern, die man an der Grenzübergangsstelle durchlaufen musste.

Hier schließt sich der Kreis. Wir sind wieder an die Mauer zurückgekehrt. Nicht viel ist geblieben. Robinsons Zeichnungen bringen sie uns noch einmal zurück, tauchen in Farbe, was farblos war und hart, zur Abschreckung für die Nachgeborenen und zum Nachdenken über kalte Zeiten in einer geteilten Stadt.

„Die Berliner Mauer“ als Leporello mit Bildern, Zeittafel und Mauerplan kostet im August noch 12,50 Euro, danach 14,80 Euro.

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