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"Die Mauer steht noch 50 und auch 100 Jahre": Der große Irrtum von Erich Honecker

Am 19. Januar 1989, genau vor 25 Jahren, sagte Erich Honecker: „Die Mauer wird in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen bleiben, wenn die dazu vorhandenen Gründe nicht beseitigt werden.“ Es kam bekanntlich anders. Eine Erinnerung an ganz spezielle Tage.

Ich kannte die Mauer ganz aus der Nähe. Wenn der schwenkbare Omnibus der Linie 55, genannt „Schlenki“, meine Eltern und mich, einen Jungen aus Pankow, in den Kleingarten der Familie nach Rosenthal fuhr, ganz oben in den Norden vom Osten Berlins, dann machte eine der Straßen, die sicherlich irgendwann einmal geradeaus geführt hatte, plötzlich eine große weite Biege an einer Betonwand entlang; einem weißen Steinriss, hinter dem ein eckiger Wachturm emporragte. Aus dem heraus wurde unser 55er Bus mit Ferngläsern beobachtet, ein quadratischer Blumenkübel aus Beton stand da auch noch rum, der diesen Arbeitsplatz offenbar verschönern sollte – und natürlich, das wusste man aber nicht aus dem Staatsbürgerkundeunterricht in der Schule, sondern aus halb gesagten Sätzen im Schlenki-Bus, natürlich sollte es weit hinter dem Streifen noch eine weitere Mauer geben, die unser Leben vollständig umschloss. Ein Leben, von dem man Anfang 1989 noch dachte, es würde niemals nie zu Ende gehen. Hinterm Horizont geht’s weiter, sang Udo Lindenberg damals aus dem „Stern“-Kofferradio, das in unserem Kleingarten am Kirschbaum hing.

Doch der Horizont oben in Rosenthal endete an den Hochhäusern des Märkischen Viertels, im Norden vom Westen Berlins, und natürlich an der Staatsgrenze der DDR, die man dazwischengemauert hatte. Menschen machten dort drüben Fenster auf und sahen uns beim Grillen zu. Man hörte auch Kindergeschrei aus einem Schwimmbad, das auf keinem Stadtplan, den ich kannte, verzeichnet war. Einen Schuss hörten wir nie, manchmal aber patrouillierten Hubschrauber.

Den Westen von Berlin kannte ich vom Fernsehturm

Das andere Leben war so nah entfernt, dass man es nur von Weitem in Gänze übersehen konnte. Den Westen kannte ich aus dem Fernsehen und vom Fernsehturm am Alex. Der Blick schweifte in die Ferne, hinaus über Ost-Berlin, der großen Hauptstadt eines kleinen halben Landes. Dass auch der Westen begrenzt war, merkte ich erst in einem Später, an das ich früher nicht geglaubt hatte.

Auch das Leben unserer Irgendwann-mal-Brüder und -Schwestern schloss dieser „antifaschistische Schutzwall“ ein, unser Blumenkübelstreifen der geteilten Bürgersteige. Jenes Stück Leben neben/ohne/unter uns war in meinem Schulatlas nur als grauer Fleck mit der Abkürzung „WB“ markiert. Westberlin (ohne Bindestrich, um es nicht als Teil einer Stadt anzuerkennen) war jener dunkle Ort, wie ich an diesem Freitagmorgen im Januar abschätzig in der „Berliner Zeitung“ meiner Eltern lesen konnte, in dem Antifaschisten brutal niedergeknüppelt wurden (sie demonstrierten vor dem ICC gegen einen Parteitag der rechten „Republikaner“). Brutaler aber war – für mich und meine Familie, eigentlich für alle unserseits – die Meldung, die direkt daneben in der Zeitung stand.

Wie immer war die eigentliche Nachricht nicht in der Überschrift platziert („Thomas-Müntzer-Komitee der DDR tagte in Berlin“), sondern erst in Zeile 122 versteckt. Da wurde mein langsam tatterig werdendes Staats- und Parteioberhaupt Erich Honecker mit einem Satz zitiert, den er auf dieser Konferenz holterdiepolter über die Staatsgrenze fallen ließ – jene weiße Linie, die eigentlich eine rote Linie war, über die man gar nicht sprach. Und er nannte sie auch noch Mauer. Am 19. Januar 1989 also, genau heute vor 25 Jahren, sagte Erich in Richtung Westen, aber eigentlich in unsere Richtung: „Die Mauer wird in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen bleiben, wenn die dazu vorhandenen Gründe nicht beseitigt werden.“ Das Wenn hätte er sich natürlich sparen können, denn die Botschaft war klar wie Ost-Berliner Trabbi-Luft. 100 Jahre. Mauer. Ausweglos, unendlich, betonhart. So wirkte das selbst für mich als junger Junge. Vielleicht auch, weil alle schockgestarrt über diesen einen Satz redeten an den Straßenecken.

Da bleibt uns wohl nichts walter ulbricht

100 Jahre? Mein Onkel im Erzgebirge pflegte angesichts solcher Anlässe eine Bierflasche zu öffnen und resigniert auszurufen: „Tja, da bleibt uns wohl nichts walter ulbricht.“ Walter war schon lange tot (abgesetzt vom ewigen und immer mehr im Singsang vor sich hinredenden Erich); und ausweglos war alles trotzdem nicht. In der Sowjetunion operierte Michail Gorbatschow mit demokratischen Reformen am offenen sozialistischen Herzen. Plötzlich trugen in Ost-Berlin viele junge Leute „Gorbi“-Sticker (meine Eltern besorgten mir einen in Prag), plötzlich schworen wir bei der Jugendweihe gerne auf die deutsch-sowjetische Freundschaft, plötzlich und hastig verbot die DDR-Führung die sowjetische Zeitschrift „Sputnik“. Im Kleinen wirkte das große Ganze angreifbar, gar nicht mehr unendlich. Selbst in den Klassenzimmern, in denen Erich stumm auf uns herabblickte, wurden wir manchmal mutiger. In meiner Schülerzeitung „Brennpunkt“ – weil es keine Kopierer gab, schrieb ich sie per Hand auf Papier und hängte sie an einen Nagel an die Wand – machte ich zum Jahreswechsel 1988/89 Umfragen übers Schulessen (Antworten: „katastrophal“, „kalt“, „labberig“) und versteckte Witzchen über die Staatsgrenze: „Achtung! Smog in Westberlin! Vielen Dank an alle Grenzsoldaten.“ Eigentlich sollte es nur ein Scherz darüber sein, dass es im sozialistischen Teil der Stadt angeblich niemals schlechte Luft gab.

Doch die Direktorin bestellte mich umgehend ins Sekretariat und wies mich darauf hin, dass das Schreiben über die Staatsgrenze verboten sei. Umfragen übrigens auch. Hin und her und hin ging es im Kleinen. Aber eine große Wende war ganz und gar nicht abzusehen in unserer Schlenki-Stadt.

100 Jahre. Oder doch nur 50? Schon als Kind hatte ich gelernt, dass man über die Mauer möglichst kein Wort verlor. Ohne dass mir das jemand ausdrücklich gesagt hätte. Als ich einmal mit meinem Fotoapparat Bilder von unserem Kleingarten in Rosenthal machte, waren auch einige von der Mauer hinter den Brombeerhecken dabei. Ich brachte die Negative in ein Fotogeschäft in Pankow. Als ich sie ein paar Tage später abholte, waren alle Bilder entwickelt – nur die von der Mauer nicht. Die Negative waren auch weg. Da verstand ich selbst als junger Junge: Es gibt Offensichtliches, was es offensichtlich nicht gibt.

Es geschahen aber auch Dinge im Januar 1989, die offiziell gar nicht geschahen. Im Westfernsehen war zu sehen, wie erste Menschen die Botschaften besetzten, um ihre Ausreise aus der DDR zu erzwingen – in Prag, aber auch inmitten unseres Berlins. In die Ständige Vertretung der Bundesrepublik an der Hannoverschen Straße hatte sich ein Dutzend Menschen geflüchtet. Und nach Berichten des Rias, der Westmusik über die Mauer in unseren Kleingarten schallwellte, sollten bis zu einer Million Ostdeutsche einen Ausreiseantrag gestellt haben. Bei einer anonymen Umfrage des West-Berliner Senders auf dem Alexanderplatz sagte ein Mann ganz offen: „Ich wünsche mir, dass wir alle mal rüberfahren können.“ Es bröckelte was zwischen den Zeilen und in Nebensätzen. Der weiße Steinriss bekam Risse, ganz feine.100 Jahre? Als Rentner erst den Westen sehen? Eigentlich war es nicht zu glauben.

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