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Berlin: Die Medizin der Gnade

SONNTAGS UM ZEHN Die Straßen heißen hier Weg, sind klein und sicherlich nicht nur sonntags so ruhig. Liebevoll bepflanzte Balkone wetteifern mit gepflegten Vorgärten, Vögel zwitschern – in der Wohngegend um die Gnadenkirche Pichelsdorf in der Jaczostraße 52 in Spandau ist die Welt scheinbar in Ordnung und freundlich.

SONNTAGS UM ZEHN

Die Straßen heißen hier Weg, sind klein und sicherlich nicht nur sonntags so ruhig. Liebevoll bepflanzte Balkone wetteifern mit gepflegten Vorgärten, Vögel zwitschern – in der Wohngegend um die Gnadenkirche Pichelsdorf in der Jaczostraße 52 in Spandau ist die Welt scheinbar in Ordnung und freundlich. Freundlich wird dann auch die Fremde vor dem Gottesdienst in der Kirche wie alle anderen Besucher mit Handschlag begrüßt. Ob sie neu sei in der Evangelischen Weinbergkirchengemeinde Spandau, wird gefragt. Man kennt sich hier, viele grüßen sich mit Vorn, auch den Pfarrer.

Im Inneren des Gotteshauses, das 1946 der erste Kirchenneubau Berlins nach dem Krieg war, ist es hell und ebenfalls freundlich. Durch die hohen Fenster mit bunten Glasmosaiken fällt viel Licht ins Kirchenschiff, in dem die Gläubigen unter der holzgetäfelten Decke auf roten Polsterstühlen Gottes Wort lauschen, das ihnen gestern Pfarrer Olaf Seeger predigte.

„Ein Pfahl im Fleisch – Paulus der Epilektiker?“ ist am achten Sonntag nach Trinitatis sein Thema in der Sommerpredigtreihe, die Tradition hat in der Gemeinde. In diesem Jahr stehen die Gottesdienste unter dem Motto: „Unheilbar gesund! Unheilbar? Gesund?“ Der unkonventionelle und ohne Schnörkel predigende Pfarrer erinnert nicht nur mit seiner Frisur ein wenig an Martin Luther. „Trotz der einzigartigen Offenbarung, die mich erhellt, soll ich nicht überheblich werden, deshalb wurde mir ein Pfahl ins Fleisch gestoßen“, liest er aus dem 2. Brief von Paulus an die Korinther. Was ist das für ein Pfahl, fragt er die Gemeinde und kommt auf die Epilepsie zu sprechen – auch „die Krankheit des heiligen Paulus“ genannt.

Rudi, so nennt der Pfarrer fiktiv einen Freund, bekam sie mit 20 Jahren. Vorher hatte er keine Freuden des Lebens ausgelassen, liebte Wein, Weib und Gesang. Bis er an Epilepsie erkrankte. Danach gehörte Rudi zu den behinderten Menschen, die mancher von uns noch immer oft als lästigen Anblick nicht erträgt. Weil die Werbung uns allen tagtäglich ein Bild vom Menschen in Stärke, Kraft und Schönheit vorgaukelt. Auch Paulus habe in Korinth als kränklicher Schwächling gegolten. Ihm das Leiden abzunehmen, habe er Gott dreimal angefleht, und der habe ihm als einzige Stärke seine Gnade angeboten.

Wie Paulus leiden in Deutschland mehr als drei Prozent der Bevölkerung. 800 000 Menschen sind an Epilepsie erkrankt, jährlich kommen 40 000 hinzu, erfährt die Gemeinde. Behinderte Menschen seien aber mehr als unfreiwillige Arbeitgeber für viele soziale Berufe. „Gott weiß mit den behinderten Menschen etwas anzufangen“, sagt der Pfarrer, „sie sind und bleiben Gnade und Fülle des Herren – Amen.“ Da singt dann anschließend gern die Gemeinde mit voller Stimme: „Was Gott tut, das ist wohlgetan, er wird mich wohl bedenken“ und endet mit „Gott ist getreu, drum will ich auf ihn bauen und seiner Güte trauen“.

Dass man am kommenden Sonntag den neuen Pfarrer bei seiner ersten Predigt in der Gnadenkirche Pichelsdorf mit offenen Armen und warmen Worten empfangen möge, bittet Pfarrer Olaf Seeger die Gemeinde zum Schluss des gestrigen Gottesdienstes und kommt nochmals auf IHN zurück. „Hofft auf ihn, liebe Leute“, bittet der Pfarrer darum, „das Herz aufzumachen für unseren Gott“ und wünscht allen einen schönen Sonntag. Heidemarie Mazuhn

Sommerpredigtreihe: 4. August, Laurentiuskirche, Heerstraße 367: „Rein oder unrein – das ist hier die Frage – Lepra gibts noch immer“. 11. August, Gnadenkirche Pichelsdorf, Jaczostraße 52: „Das erstarrte Herz – wenn die Pumpe nicht mehr will“. 18. August, Laurentiuskirche: „Von bösen Geschwüren geschlagen - Diagnose Krebs“. 29. September, Gnadenkirche Pichelsdorf: „Unser Auftrag: Das Reich Gottes verkünden und heilen“.

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