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Cameron Carpenter fährt mit seiner Orgel vor die Tür und musiziert vor Seniorenheimen, hier in Spandau.

© Christoph Söder/dpa

Die Musi kommt: Beschwingtes Pfeifen über den Reifen

Cameron Carpenter hat eine Orgel auf dem Lastwagen und musiziert damit vor den Fenstern alter Menschen – er ist nicht allein.

Musik vor den Fenstern, das könnte ein Konzept für die Zukunft sein. Spektakulär hat das gerade der amerikanische Orgelkünstler Cameron Carpenter vorgeführt, der, wie berichtet, sein Instrument auf einem Truck befestigt hat und mit Unterstützung der Bürgerstiftung Berlin vor Seniorenheimen Bach gespielt hat. Mit dieser Initiative war er nicht allein. Sowieso hat sich vor einiger Zeit die Vorsitzende der Bürgerstiftung, Vera Gäde- Butzlaff, vorgenommen, verstärkt auch die Nöte der Älteren ins Visier zu nehmen. Zunächst geschah das klassisch durch die Lesepaten, die in der Woche alten Menschen literarische Werke vorlasen und am Wochenende die Zeitungen.

Den Konzertsaal nach Hause zu bringen, ist etwas aufwändiger. Aber es lohnt offensichtlich. „Diese Menschen haben auch in normalen Zeiten keine Chance, in die Philharmonie zu kommen“, sagt Cameron Carpenter mit Blick nach oben zu den Fenstern und winkt den Senioren im Reinickendorfer Vivantes-Heim zu. Mit seiner Orgelmusik vom Lastwagen wird vielleicht die Erinnerung an festliche Tage geweckt, an Hochzeiten und Taufen in Kirchen, an eine Gemeinschaft, die es so für sie nicht mehr gibt. Christine Hardt von Vivantes hat jedenfalls „eine super Resonanz“ erlebt. „Die Bewohner sind danach richtig beschwingt durch den Tag gegangen.“ In der Schönwetter-Zeit sollen Aktionen wie diese öfter stattfinden. Am 12. Mai werden im Garten des Hauses Mitglieder des Rundfunk-Sinfonieorchesters erwartet.

Er spielt Bach vom Laster herunter

Bevor es losgeht mit seinem Orgelspiel, tauscht Cameron Carter die Sneakers gegen schwarze Konzertschuhe. Eigentlich sollte er an diesem Abend in der Philharmonie auftreten. Darauf hatte er sich gefreut. Hinter den Fenstern des Reinickendorfer Vivantes Seniorenhauses warten die alten Menschen, um seinem Konzert zu lauschen. Auf der Terrasse stehen sie mit ihren Pflegern, in den Büros sitzen sie nebeneinander, die Fenster auf Kipp gestellt. Gleißende Scheinwerfer strahlen draußen den Künstler an, dessen elektronische Orgel auf einem Mercedes-Truck installiert ist. Im Mietshaus gegenüber haben es sich die Menschen auf den Balkonen gemütlich gemacht.

„Mit einem kleinen Bus ließen sich vielleicht öfter Konzerte zu den Senioren nach Hause bringen“, glaubt der Geschäftsführer der Bürgerstiftung Berlin, Steffen Schröder. „Es kommt nun darauf an, dass wir das finanziert bekommen.“

In seiner Jugend in den USA hat Cameron Carpenter schon vor Schulversammlungen open air auf der Orgel gespielt. Er selber ist nicht nur Künstler, sondern auch Tüftler und legt großen Wert darauf, das Instrument für einen möglichst perfekten Sound exakt zu stimmen. Das Konzept der mobilen Orgel hat ihn immer schon fasziniert. Nun gibt es ihm die Chance, Freude zu bringen, zu Menschen, die auch sonst nicht mehr weg können aus ihren Häusern. Für Johann Sebastian Bach hat er sich bewusst entschieden: „Das ist sehr beruhigend und positiv, also logisch in dieser Zeit.“ Er führt Stücke auf, wie die Goldberg-Variationen, die er selbst besonders mag und gerne immer wieder spielt. „Das ist mein Dank für die unglaubliche Zeit, die ich hier verbracht habe.“

Viele Musiker geben freiwillig Hofkonzerte

Für Kultursenator Klaus Lederer sind die Konzerte „ein weiterer schöner Beleg für die kreative Kraft der Kunst gegen die Einschränkungen, die uns Corona abverlangt.“ So komme großartige Musik auch zu denen, die digitale Ausweichmöglichkeiten nur bedingt nutzen können. Klar, Online-Konzerte erreichen die über 80-Jährigen oft nicht mehr. Besondere Mühe hat man sich in der Bethanien Diakonie am Spandauer Burgwall gegeben. Sie heißt „Agaplesion“, was soviel bedeutet wie „Liebe deinen Nächsten.“ Schön auf Abstand saßen die Menschen draußen vor dem Gebäude. Sprecher Andreas Wolff erzählt, dass man bereits im März mit sogenannten Hofkonzerten begonnen habe. Sich für eine halbe Stunde unterhalten zu lassen, sei sehr wichtig. Und auch dafür kommen erstaunlich viele Künstler freiwillig. Sänger vom Staats- und Domchor zählen ebenso dazu wie Musiker vom Bläserquintett der Bundespolizei Berlin. Auch ein Clown war schon da.

Die Idee, Kunst nach Hause zu bringen, verbreitet sich rasch. Schon gibt es weitere Nachahmer. Am 4. Mai spielten Solobratscher Amihai Grosz, Schauspielerin Claudia Eisinger und ihr Lebensgefährte, der Musikproduzent Mark Pinhasov eine Live-Performance im Hof des Renafan Ludwigpark in Buch für Bewohner und Pfleger. Die Einrichtung vereint Altenpflege, Hospiz und Krankenhaus, ist also ein guter Einsatzort mit breit gestreutem Publikum. Ein Video zu dem Projekt stellten sie im Anschluss auf den Instagram-Kanal „Be a Mover“, einer Daimler-Initiative, die vor allem junge Menschen dazu bringen will, Positives in der Welt zu bewegen. Vielleicht werden so auch andere noch folgen unter dem Motto „Wenn die Menschen nicht zur Musik kommen können, dann kommt die Musik eben zu den Menschen.“

Zum Finale vor dem Reinickendorfer Seniorenheim legt Cameron Carpenter sich nochmal richtig ins Zeug. Applaus, Verbeugung, wie im Konzertsaal. Auch einige kleine Mädchen, die mit Mundschutz dem Konzert gelauscht haben, klatschen heftig in die Hände. Noch ein letztes Winken nach oben: „Sorry Leute, wir müssen weiter.“

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