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Popstar in Lebensgröße. Im Zimmer der 14-jährigen Anika hängen Poster von koreanischen Boybands, sie ist großer Fan und hat deswegen sogar Koreanisch gelernt. Wenn Mitschüler sie besuchen, sind die oft überrascht, "wie normal es hier eigentlich ist."

© Mike Wolff

Die Mutter hat ihr das Weinen verboten: Geschichten aus dem Kinderheim

Hausaufgaben, tanzen, regelmäßiges Essen – all das gab es in ihren Familien nicht. Im betreuten Wohnen finden Jugendliche einen normalen Alltag.

In Anikas Zimmerwand klafft ein großes Loch. Das hat sie einmal im Zorn hineingetreten. Außerdem weint sie oft. „Manchmal reicht der kleinste Anlass und ich bekomme richtige Heulkrämpfe“, sagt die 14-Jährige. Früher, als sie noch bei ihrer Mutter lebte, hat die ihr das Weinen verboten.

„Ich war damals sehr unglücklich. Ich habe mich von meiner Mutter ständig runtermachen lassen.“ Es muss einiges vorfallen, bis das Jugendamt ein Kind aus einer Familie nimmt.

Anika lebt inzwischen schon seit fünf Jahren im betreuten Wohnen im Kinder- und Jugendhaus St. Josef in der Delbrückstraße in Neukölln, zusammen mit zehn anderen Jugendlichen in einer Wohngruppe. Die Einrichtung wird von der Caritas Familien- und Jugendhilfe betrieben und hat aktuell einen erhöhten Zulauf. Auf einen Platz muss man deshalb oft warten.

Die Kinder im Haus haben oft schlimmes erlebt

Zusammen mit Lisa (14) und Sophia (13) aus der WG sitzt Anika gerade am Küchentisch und malt ein Bild mit Wasserfarben. Die Namen der Mädchen sind geändert, sie möchten ihre Geschichten anonym erzählen. Denn auch die anderen Mädchen haben schwere Jahre hinter sich. Ihre Geschichten bringen sie mit in den WG-Alltag.

„Meine Geschwister und ich wurden ganz oft geschlagen. Mehr möchte ich nicht erzählen“, sagt Lisa. Sophias Mutter war lange Zeit im Krankenhaus, hatte unter anderem einen Schlaganfall und lag im künstlichen Koma. Der Vater lebt seit Jahren in Nordrhein-Westfalen.

Gemeinschaft. Die Mädchen treffen sich zum Malen.
Gemeinschaft. Die Mädchen treffen sich zum Malen.

© Mike Wolff

So wie den dreien geht es den meisten Jugendlichen, die im St. Josef-Haus unterkommen. „Wir hatten hier tatsächlich schon die schlimmsten Fälle von Gewalt, Vernachlässigung bis hin zum sexuellen Missbrauch“, sagt Betreuerin Maria Meier.

Die Erzieher übernehmen die Rolle der Eltern

Sie ist eine von 17 Erziehern, die sich im Wechsel um die drei Wohngruppen im Haus kümmern. Sie kommt an zwei Tagen in der Woche für 24-Stunden vorbei, um sich um ihre Schützlinge zu kümmern. „Ich begleite den ganzen Tag und sorge dafür, dass die Kinder ihre Mahlzeiten einnehmen und ihre Hausaufgaben machen.“

Sie schläft schläft dort auch, am Morgen weckt sie alle für die Schule und bereitet das Frühstück vor. "Eigentlich das, was eine Mama so macht." Diese besondere Nähe zu den Kindern und zu den Jugendlichen gefällt ihr.

Wichtig ist es ihr, im Alltag Werte zu vermitteln. Das könne sie besser leisten als ein Betreuer in der Schule oder im Hort: „Da habe ich den ganzen Tag über natürlich mehr Einfluss.“

Schwierig ist für sie nicht so sehr der Umgang mit den Kindern, sondern die „äußeren Umstände“: „Wir bräuchten mehr Personal. Eine Mutter mit zehn Kindern schafft es schon nicht immer, allen gerecht zu werden. Und hier sind es nicht mal meine eigenen.“

Die meisten Jugendlichen kehren nicht mehr zu den Eltern zurück

Trotz aller Zuneigung muss sie als Erzieherin auch einen gewissen Abstand wahren. Denn das Ziel des betreuten Wohnens ist es immer noch, die Kinder zu ihren Eltern zurückzuführen, was allerdings nicht sehr häufig passiert.

„Die meisten kommen hierher und bleiben, bis sie 18 Jahre alt sind. Wenn aber doch jemand zurückgeführt wird, ist das natürlich ein großer Schritt für alle Beteiligten.“ Mit 18 Jahren folgt dann oft der Übergang ins betreute Einzelwohnen, das ebenfalls von der Caritas angeboten wird.

Anika und Lisa wollen sowieso nicht mehr zurück nach Hause. Hier in der Gruppe gefällt es ihnen viel besser. „Ich kann jetzt endlich wieder ich selbst sein und meine Hobbys verfolgen, im Verein tanzen gehen,“ meint Anika. „Zu Hause ging das nicht.“ Nur Sophia hat überhaupt noch regelmäßigen Kontakt zu den Eltern.

Loch in der Wand. Anika hat ihre Wut manchmal nicht im Griff.
Loch in der Wand. Anika hat ihre Wut manchmal nicht im Griff.

© Mike Wolff

Ihre Mutter besucht sie jedes Wochenende, mit dem Vater telefoniert sie regelmäßig, fährt in den Schulferien auch zu ihm nach Nordrhein-Westfalen. „Wenn ich bei ihm bin, nehmen wir uns auch oft noch etwas Besonderes vor“, sagt sie. Eines Tages möchte sie wieder zu Hause wohnen.

Kino und Skiausflüge stehen auf dem Programm

Aber fürs Erste ist sie mit ihrer Situation zufrieden. Denn den Jugendlichen wird im Heim nicht bloß ein Dach über dem Kopf geboten. Immer wieder gibt es auch gemeinsame Aktivitäten. „Heute waren wir mit dem ganzen Haus im Kino und haben uns die Premiere von Dr. Doolittle angeschaut“, sagt Anika. Die Geschichte des wundersamen Arztes hat ihr gefallen.

Demnächst ist für alle drei Wohngruppen auch ein Skiurlaub in der polnischen hohen Tatra geplant, auf den sich die drei Mädchen besonders freuen. Lisa und Sophia standen noch nie in ihrem Leben auf Skiern, Anika nur einmal ganz kurz. Für das St.-Josef-Haus wäre ein solcher Ausflug allein finanziell schwer zu stemmen.

Zum Glück hat eine Kirchengemeinde die Teenager eingeladen, bei einer Skifreizeit mitzukommen und kümmert sich um die Kosten. Aus der Sicht von Heimleiterin Monika Kießig ist es gut, dass viele andere Kinder von außerhalb an dem Urlaub teilnehmen: „Da können unsere Kinder auch mal andere Leute kennenlernen.“

Wie in jedem funktionierenden Haushalt müssen auch in der Wohngruppe einige Regeln befolgt werden. Jeder muss nebenher einige Ämter ausfüllen: Küchenamt, einkaufen gehen, das Bad reinigen. Da gebe es natürlich manchmal auch Widerstände, sagt Betreuerin Maria Meier augenzwinkernd.

Ein Smartphone zu haben ist erlaubt, aber Grundschüler müssen es abends bei der Erzieherin abgeben. Erst mit zwölf Jahren wird den Kindern eine eigene SIM-Karte zugestanden.

Das Leben im St. Josef Haus gleicht fast einer normalen WG

Nach dem Abendbrot geht es relativ zeitig ins Bett. Die 14-Jährige Anika muss zum Beispiel schon um 21.15 Uhr schlafen gehen. Mit jedem weiteren Lebensjahr verschiebt sich die Bettruhe um eine Viertelstunde.

Abends gibt es verschiedene Gemeinschaftsaktivitäten, es können Videospiele gespielt oder Netflix geschaut werden. Einen eigenen Computer haben die Jugendlichen allerdings nicht auf dem Zimmer. Der Heimleitung ist ein bewusster Umgang mit Medien wichtig, zu viele Stunden sollen hier nicht vor dem Bildschirm verbracht werden.

Anikas Jugendzimmer ist nach ihren persönlichen Vorlieben gestaltet. Sie ist großer Fan von K-Pop.
Anikas Jugendzimmer ist nach ihren persönlichen Vorlieben gestaltet. Sie ist großer Fan von K-Pop.

© Mike Wolff

Nach der gemeinsamen Malstunde zeigt Anika ihr eigenes Zimmer stolz vor. An den Wänden finden sich zahllose Poster von koreanischen Boybands. Sie ist großer Fan von K-Pop, hat aus Interesse sogar schon Koreanisch gelernt.

Auch ihre Mitschüler hat sie schon hierher eingeladen. „Am Anfang waren die noch etwas skeptisch als sie gehört haben, dass ich im Jugendheim wohne“, sagt sie. „Dann waren die meisten aber genauso positiv überrascht wie ich. Die konnten gar nicht glauben, wie normal es hier eigentlich ist.“

Kai Gies

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