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Berlin: Die Platte fällt

An der Marchwitzastraße wird ein Doppelhochhaus abgerissen

Dieses Mal ist es ein Abschied für immer. Als Helmut Roitzsch vor einem Jahr aus dem Hochhaus an der Marchwitzastraße 1-3 ausziehen musste, wusste er, dass er noch einmal wiederkommt. Ein letztes Mal. Roitzsch wollte miterleben, wie die erste Platte fällt. Mehr als 20 Jahre wohnte er in diesem Betonklotz. Deshalb stand er gestern Nachmittag zusammen mit anderen Schaulustigen vor dem etwa 70 Meter hohen Gebäude. Den Fotoapparat hatte er mitgebracht. „Den historischen Augenblick will ich unbedingt festhalten“, sagt er. Denn für den rüstigen Senior hat der Abriss des Plattenbaus auch eine symbolische Bedeutung. „Was einst gut und der Zeit angepasst war, wird jetzt einfach platt gemacht“, sagt der 70-Jährige leise. Er habe das Gefühl, ein Stück Geschichte werde entsorgt. Das Hochhaus war in den 70er Jahren als einer der ersten Plattenbauten in Marzahn errichtet worden.

Aber als Roitzsch dann nach oben schaut und das erste 2,3 Tonnen schwere Betonsegment am Kran schweben sieht, sagt er etwas lauter: „Eigentlich bin ich jetzt drüber weg.“ Vielleicht will er nur seine Trauer überspielen. Vielleicht hat er aber auch begriffen, dass dieses Haus ein unwirtschaftliches Unterfangen für die Wohnungsbaugesellschaft Marzahn (WBG) ist. 30 Prozent der Wohnungen standen leer; ein Käufer für das Objekt fand sich nicht. Die vor sich hindämmernde Ruine kostete die WBG monatlich rund 10 000 Euro. Von den insgesamt 100 000 Wohnungen in Marzahn-Hellersdorf steht heute jede zehnte leer. Im Vergleich zu den Plattenbausiedlungen anderer ostdeutscher Städte ist diese Quote recht niedrig.

Seit Mitte November wird das Doppelhochhaus mit seinen 296 Wohnungen von innen entkernt. Zimmertüren, Fußbodenbeläge, Rohre, Fensterbänke - alles wird herausgerissen. Das Material soll wieder verwendet werden. Die vier oberen Etagen des 21-Geschossers sind bereits entkernt. Bis Juni 2003 soll das Haus Etage für Etage abgetragen werden. Um die erste Platte – ein Deckenelement – herauszulösen, musste eine etwa zehn Zentimeter dicke Schicht Estrich abgetrennt werden. Nach Schätzungen des Bauleiters Gerd Clasen von der Firma Philipp Halter besteht der graue Koloss aus insgesamt 4000 einzelnen Platten. Die sollen bis zum Sommer nächsten Jahres verschwunden sein. Die selbe Firma, die jetzt dieses Gebäude demontiert, hat auch schon das so genannte Mehlschwalbenhaus an der Mollstraße in Mitte sowie das DDR-Außenministerium abgerissen.

„Die Platten werden gleich vor Ort zerkleinert und zum Großteil für den Bau von Straßen verwendet“, sagt Clasen. Noch vor Weihnachten wollen die Bauarbeiter das Gebäude um die beiden oberen Etagen stutzen.

Die meisten Anwohner freuen sich über den begonnenen Abriss. „Dann ist der Schandfleck endlich verschwunden und wir haben eine bessere Sicht“, sagt eine junge Frau. Auch der 13-jährige Paul-Robert Achcenich verbindet den „Plattenfall“ mit etwas Positivem. „Dann habe ich mehr Licht in meinem Kinderzimmer“, sagt der Schüler, der in einem sanierten Haus ganz in der Nähe wohnt.

Eine 25-Jährige Köpenickerin, die einst in Marzahn aufwuchs, fühlt sich „irgendwie vom Kran überrumpelt“. Viel zu schnell sei die Entscheidung zum Abriss gefallen. Sie hat den Eindruck, dass ihre eigene Geschichte entsorgt wird.

Rund eine Million Euro kostet der Abriss dieser Platte. Das Geld kommt im Wesentlichen aus dem „Programm Stadtumbau Ost“. Anstelle des Hochhauses ist zunächst eine Grünfläche geplant.

Steffi Bey

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