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Berlin: Die Puppe ist ein Philosoph

Kunst und Kokolores: Am Wochenende läuft die 14. Ausgabe des Kulturfestivals „48 Stunden Neukölln“ Zu sehen ist dabei auch die musikalische Spaßprozession „Auszug des letzten Böhmen“.

Ja, soll man denn immer nur stumpf konsumieren? Beim Kunst- und Kunstkulturfestival „48 Stunden Neukölln“, das am Freitagabend gestartet ist, kann man mit Minimalaufwand schon Teil eines Happenings werden, statt einfach nur Gaffer zu sein. Was man dafür tun muss? Egal ob vorsätzlicher Besucher oder zufälliger Passant, wenn einem zwischen Karl-Marx-Straße und Landwehrkanal ein theatralischer Aufzug mit einer meterhohen Stabpuppe, einer fliegenden Kuh, einer Balkan-Brassband begegnet, einfach folgende Schlachtrufe skandieren: „Da zieht er hin, der letzte Böhme. Geh’ nicht fort, letzter Böhme. Ach, bleibe doch, letzter Böhme.“ Aber auch drastischere Rufe wie „Verpiss’ dich, Böhme, keiner vermisst dich!“ sind der Spaßkünstlergruppe „Weltkultur Neukölln“ bei ihrer musikalischen Prozession „Auszug des letzten Böhmen“ herzlich willkommen.

Am Sonnabend und Sonntag ab 15 Uhr zieht die Truppe mit der Puppe, der Helium-Kuh, der Musik und allerlei Papp-Hausrat von ihrem Laden in der Mainzer Straße 42 über Flughafenstraße und Reuterkiez zur Hobrechtbrücke, von wo Neuköllns letzter Böhme dann die Flucht nach Kreuzberg antritt. Zumindest wenn am Wegesrand die erhoffte Anteilnahme der ihm nachtrauernden Bevölkerung ausbleibt. Seine Gesichtszüge sind übrigens Amos Comenius nachempfunden, dem Namenspatron des Comenius-Gartens in der Richardstraße. Der Philosoph, Pädagoge und Theologe war Bischof der Böhmischen Brüder, die Rixdorf vor 275 Jahren als Glaubensflüchtlinge besiedelten. Diesem Datum sind dieses Jahr nicht nur während der 48 Stunden viele Veranstaltungen gewidmet.

„Wir wollen die Jubelfeiern mit unserer Aktion ein bisschen karikieren“, sagt Rolf Bindemann vom Verein „Weltkultur Neukölln“. „Und dabei fragen, wie gastfreundlich und tolerant der sich ständig wandelnde Bezirk noch ist“, ergänzt Mitstreiter Bernd Rakowski. Sie und die ebenfalls mitmischende Malerin Viktoria R. Müller haben bei ihrer Recherche am Richardplatz mit der Idee vom abwandernden letzten Böhmen vor dem Festival schon mal kräftig die dort noch ansässigen Nachfahren der Rixdorfer Böhmen verschreckt. Wie das halt so geht, wenn man mit seiner selbst erfundenen Kunstrichtung „Neuer Rixdorf Historismus“ Ironie mit Kunst, Kokolores und Geschichte mixt.

Bei den „48 Stunden“, die dieses Mal mit rund 600 Veranstaltungen an 340 Orten aufwarten und auf jeden Fall die 70 000 gezählten Besucher des vergangenen Jahres erwarten, sind sie schon seit 2009 mit ihren Dada-Aktionen dabei. „Wir bringen den Trash-Aspekt ins Festival“, sagt Rolf Bindemann. Der guten Mischung wegen hat er nichts dagegen, dass es neben dem traditionellen Kunst-vonunten-Appeal inzwischen auch kuratierte Ausstellungen gibt. Aber die von ihm ausgemachten Bestrebungen, aus dem Low-Budget-Festival eine für Galeristen interessante Documenta oder Biennale zu machen, findet er verfehlt. „Es ist so toll, weil es ein Kunstvolksfest ist.“

Natürlich eins, dass sich unter dem diesjährigen Motto „Endstation Paradies“ in Läden, Galerien, Wohnungen, Kneipen, Hinterhöfen oder auf Schiffen auch um so ernste Themen wie Asyl, Verdrängung und natürlich Migration kümmert. Denn was einst die böhmische Parallelgesellschaft im historischen Rixdorf war, sind heute die bei deutschen wie türkischen oder arabischen Neuköllnern gleichermaßen ungeliebten jüngsten Zuwanderer – die Roma.

Viktoria R. Müller, 46, die als im Kaukasus geborene Russlanddeutsche seit zwölf Jahren im Bezirk lebt, findet jenseits der Ironie, dass das doppeldeutige Festivalmotto auch was mit ihr zu tun hat. „Weil ich hier einfach nicht raus- komme.“ Und wenn man sich in dem mit lustigem Krempel vorheriger Spaßprojekte vollgestopften Laden in der Mainzer Straße so umguckt und die ungemein neuköllnischen Beschäftigungsverhältnisse des „rund 60-jährigen“ Ethnologen Bindemann und des nur wenig jüngeren Webdesigners Rakowski erfragt, werden schlagartig die paradiesischen wie prekären Seiten künstlerischer Freiheit klar.

Die muss übrigens auch im Falle des „Auszugs des letzten Böhmen“ korrekt polizeilich angemeldet sein. Haben wir gemacht, grinst Bindemann, als „ortsübliche Prozession mit weniger als 30 Personen“. Und nachher stünden dann wieder 300 da, hofft Müller. So sei das jedenfalls bei ihrer letzten Aktion zum Neuköllner Kunstfestival „Nacht und Nebel“ gewesen. Wie es diesmal auch kommen mag, die Kuh muss jedenfalls fliegen.

„48 Stunden Neukölln“, Sa 12-2 Uhr, So 12-19 Uhr, Zentraler Infopunkt: Passage am U-Bhf. Karl-Marx-Straße, Programm: www.48-stunden-neukölln.de, Telefon 030- 6824 7821

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