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Berlin: Die Revolution lässt auf sich warten

Vor einem Jahr demonstrierten Tausende für die Occupy-Bewegung Viel ist davon nicht geblieben. Einige machen trotzdem weiter.

Sie sind der „Schwarm“, die „99 Prozent“. Vor einem Jahr startete die Occupy-Bewegung mit einem Aufruf in New York, die Wall-Street zu besetzen. Der Protest gegen die Finanzmärkte, gegen die Rettung von Banken mit Steuermilliarden, breitete sich nach Europa aus und erreichte das Berliner Regierungsviertel.

Und heute, ein Jahr später? Occupy scheint tot. Nur im Internet gibt es noch Lebenszeichen. Im Blog der Berliner Bewegung gibt es zwar regelmäßige Einträge, die Terminseite wirkt jedoch verschlafen: Zwei Einträge im Juli, einer im September, einer im Oktober. Viele Kommentare und Berichte sind veraltet.

War alles nur ein Strohfeuer? Dieter Rucht, der Politologe und Experte für soziale Bewegungen, neigt dazu, diese Frage mit „Ja“ zu beantworten.

Nach den Demonstrationen vom Herbst 2011 und der Räumung eines Protest-Camps auf dem ehemaligen Bundespressestrand an der Spree wurde es ruhiger um die Occupy-Bewegung. Es begannen die Mühen der Ebene, das Diskutieren um Strategien, Ziele und die Binnenorganisation. Besonders die sensible Strukturfrage ließ viele Occupy-Mitstreiter die Lust verlieren. Die Bewegung besteht vor allem aus einem informellen Netzwerk und regelmäßigen Versammlungen, den sogenannten „Asambleas“. Dort ist Konsens, dass es keine festen Strukturen geben soll, keine Gremien, Sprecher oder gar Vorsitzenden. Die verflossenen Anti-Atom- und Friedensbewegungen waren deutlich hierarchischer und effizienter organisiert.

Zur Protestaktion für den Bau eines Bürgerforums vor dem Reichstag im Juli kamen nur 20 Unterstützer. Medial verpuffte die Aktion. Politikforscher Rucht wollte mal eine Asamblea besuchen, aber das Treffen fiel ohne Vorwarnung aus. Organisatorisches Chaos, endlose Diskussionen und die Ablehnung persönlicher Profilierungen gehören zu den Geburtswehen vieler linker Bewegungen. Auch die Grünen fingen so an, bei den Piraten lässt sich gerade beobachten, wie solche Ideale mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit kollidieren. Um nach außen wirken zu können, sind Strukturen wichtig. „Es gibt bei Occupy keine Verbindlichkeit“, sagt Rucht. Schon gar nicht in den Zielen.

Immerhin gibt es Occupy-Aktivisten, die man ganz real treffen kann. Im Hinterzimmer der Kneipe „Freies Neukölln“. Zum Gespräch mit dem Tagesspiegel sind fünf gekommen. Sie sprechen offen und leidenschaftlich, haben Wut im Bauch, aber auch die Reife, sie in klare Worte zu fassen. Wer ihnen zuhört, hat nach fast drei Stunden den Eindruck, dass nach dem Strohfeuer doch noch mehr kommen könnte.

Mario hat die 30 überschritten, wirkt selbstbewusst, fast siegessicher, wobei er das wettbewerbsorientierte Organisationsprinzip des Kapitalismus eigentlich ablehnt. Occupy sei gar keine Bewegung, erklärt er, eher das überwölbende Dach für diverse Protestgruppen, von den Senioren in Pankow, die ihr Klubhaus besetzt haben, bis zu Gruppen, die sich gegen Mietsteigerungen wehren. Occupy verkörpere ein neues Bewusstsein, die Lösung für gesellschaftliche Probleme nicht mehr dort zu suchen, wo man sie bisher vermutete, bei Ökonomen und Politikern.

Occupy selbst bietet keine Lösungen, das schwächt die Bewegung. Aber Mario verteidigt diese Schwäche, man sei schließlich kaum ein Jahr alt. Klar sei nur, dass das bestehende wachstumsorientierte Wirtschaftssystem nicht mehr funktioniere; deshalb müsse man sich ihm verweigern. Mario hat bisher in der Gastronomie gearbeitet, einer Branche mit schlechten Löhnen und prekärer Beschäftigung. Dieses Kapitel ist für ihn abgeschlossen. Er möchte eine Umschulung zum Heilpraktiker machen, aber das Jobcenter – ebenfalls Teil des Systems – verweigere ihm die Finanzierung.

Nadine, 28, arbeitet noch in einer Kneipe, will aber bald ihr Fachabitur nachholen und studieren. Sie trägt eine schwarze Mütze, hat weiche, mädchenhafte Gesichtszüge, aber flammende Botschaften. Dem Milliardenpoker der Finanzbroker, die „mit einem Klick 2000 Kinder verhungern lassen“, will sie die Selbstorganisation der Menschen entgegensetzen, in vielen kleinen Projekten wie das Tauschen von Dienstleistungen und den Gemüseanbau auf Stadtbrachen. Den Marsch durch die Institutionen der grün-alternativen 68er-Linken erklärt sie für gescheitert. Politisch aktiv ist Nadine erst mit Occupy geworden, „die Antifa war mir zu radikal“.

Dann ist da noch Ute, Mitte 50, ehemals überzeugte DDR-Bürgerin, jetzt Künstlerin und Mitarbeiterin einer Psychologischen Beratungsstelle. Sie will „mehr Menschlichkeit“ erreichen und hat deshalb „Menschenrettungsschirme“ vor dem Roten Rathaus verteilt. Dazu passt ein Occupy-Slogan: „Wir sind das Volk, nicht das Kapital“. Jörg, 49, hat gerade einen Wachschutzjob verloren, ist aber genau wie Mario nicht traurig darüber. Und Lars, Mitte 30, will sich nach „mehreren prekären Arbeitsverhältnissen“ zum Erzieher umschulen lassen.

Den Strohfeuer-Effekt der Occupy-Bewegung erklärt Nadine mit der „deutschen Mentalität“, morgens zu einer Demo zu gehen und mittags wieder nach Hause. „Viele Leute haben ein Problem mit Kontinuität“, sagt Mario, einige Arbeitsgruppen seien „im Sande verlaufen“, aber im Herbst werde es ein Wiederaufflammen der Proteste geben. Am 13. Oktober ist ein weltweiter Occupy-Aktionstag geplant. Wenn die Krise aus dem Süden Europas in Deutschland angekommen ist – für die fünf Aktivisten nur eine Frage der Zeit – werde es auch hier zu Massenprotesten kommen. Mario hofft dann auf einen Systemwechsel, auf eine zweite friedliche Revolution in Deutschland.

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