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Auf der Suche nach der Wahrheit. Schöffen diskutieren gleichberechtigt mit, wenn es an die Urteilsfindung geht. Fotos: dpa (2)

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Berlin: Die Schuldfrage

Betrug, Einbruch, Quartalssuff – und der Vorwurf der Kuscheljustiz: Erfahrungen eines Berliner Schöffen.

Hastig werden die letzten Zigaretten geraucht, morgens um halb neun vor dem Eingang des Kriminalgerichts Moabit. Angeklagte mit Familienanhang im Gespräch mit ihren Anwälten. „Sie müssen gar nichts sagen. Das kriegen wir schon hin.“ Die schweren Jungs haben sich blütenweiße Trainingshosen angezogen, um vor Gericht einen guten Eindruck zu machen. Die Mienen sind dennoch finster: „Was hab ick denn jemacht? Nüscht!“ Zeugen und Sachverständige schlüpfen vorbei. Und ich als Schöffe, alle sechs Wochen soll ich meines Ehrenamtes walten.

Welcher Fall mich an diesem Tag erwartet, weiß ich noch nicht. Betrug, Diebstahl, Fälschung, Quartalssuff, Hochstapelei, notorisches Schwarzfahren, Einbruch, Überfall, Totschlag oder banale Beleidigungen („Du sture Kuh!“). Man kommt gut rum als Schöffe.

Mein Weg führt ins Beratungszimmer. Die Berufsrichter stellen den anstehenden Fall kurz vor. Oft freundlich und kollegial, gelegentlich mit genervter Herablassung. Als Schöffe brauche ich keine juristische Vorbildung, ich soll nach Lebenserfahrung und Menschenkenntnis mein Urteil bilden; als ganz gewöhnlicher Berliner Bürger. Die Richter ziehen sich die schwarzen Roben über, wir betreten den Sitzungssaal. Links neben uns, am Fenster: der Staatsanwalt, der gleich die Anklage verliest. Gegenüber der Angeklagte. Manchmal lässig hingefläzt, manchmal ein Häufchen Elend. Die Verteidiger. Hinten die Saaldiener, die die Zeugen aufrufen, und im Zuschauerraum die Familienangehörigen. Gelegentlich kommt eine Schulklasse. Meist ist man unter sich. Nur bei Sensationsprozessen versammelt sich hier eine Öffentlichkeit.

Die Anklage heute lautet auf sexuellen Missbrauch. Der Angeklagte, drei Anwälte an seiner Seite, streitet alles ab. Zeugen werden aufgerufen und gehört, viele von ihnen brechen in Tränen aus, wenn sie von den Geschehnissen erzählen. Weder von ihrem Leid noch vom Schweigen des Angeklagten darf ich mich vereinnahmen lassen. Erst nach Stunden, Tagen, manchmal Wochen entsteht ein Bild dessen, was vorgefallen ist, und es lässt sich die Frage beantworten, ob jemand Schuld zu tragen hat.

Mittagspause. Man trifft sich im Café gegenüber. Prozessjunkies, Rechtsanwälte, Schöffen, Angeklagte. Ihre Freundinnen werfen mir manchmal nette Blicke zu, um mich milde zu stimmen, auf dem Arm die Kleinkinder: „Der braucht doch seinen Vater!“ Ich bleibe für mich. Auch die wütenden Klagen von Opfern lasse ich unbeantwortet: „Die Kuscheljustiz schickt ihn jetzt auf Segeltörn in die Karibik.“

Nach einer Stunde geht die Verhandlung weiter. Manche Zeugen sind verstockt und können sich an nichts erinnern: „Ich hab das aus meinem Hirn ausradiert!“ Das kann alle Beteiligten zur Weißglut bringen. Dann die Sachverständigen. Die Plädoyers der Anwälte. Das Schlusswort des Angeklagten: „Ehrlich, ich hab nichts gemacht. Bitte glauben Sie mir!“

Die Urteilsfindung im Beratungszimmer: Schöffen und Berufsrichter diskutieren gleichberechtigt, wägen ab: Wirklich schuldig? Muss er ins Gefängnis oder kann man die Strafe noch zur Bewährung aussetzen? Als Schöffe habe ich mir zwei Gefängnisse von innen angesehen; es sind schreckliche Orte. Und doch stimme ich bei einer entsprechenden Tat für Haftstrafen. Die Richter entscheiden schließlich auch nach Gesetzeslage. Meist kommt man zu einem gemeinsamen Urteil. In diesem Fall: Vier Jahre Haft.

Feierabend. Manchmal um drei Uhr nachmittags, gelegentlich auch um elf Uhr nachts. Ich fahre mit dem Rad nach Hause. Kneipenlichter, Mietshäuser – und Polizeisirenen auf den Straßen. Gleich hinter dem Kriminalgericht: das Untersuchungsgefängnis, in dem hunderte Gefangene auf ihren Prozess warten.

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